Nach der Abschiedsnacht kamen mit dem neuen Morgen die Menschen. Schwärze brachten sie mit sich, und sie brach Licht und Baum im alten Wald. Das Waldmädchen verbarg sich im Gewand des Waldes, und so entkam sie stets der Unheil bringenden Schwärze. Niemals wieder fiel das Wasser des Flusses golden den Abhang hinab, wie es am Abend ihres großen Verlustes geschehen war, doch es floss und fiel, wie die Jahre hinab ins Dunkel der Vergangenheit. Mit dem Schwinden ihres Volkes war diese Welt gefallen in tiefe Trübnis, und in dieser grauen und einsamen Zeit stahlen sich Sehnsucht, Furcht und Zorn in Erygwens Herz, währenddessen die Menschen mit Gier in den stumpfen Augen und Wut in den zerstörerischen Händen das Antlitz des Waldes entstellten. Immer flüchtete sie vor ihnen, zog mit ihren wenigen Habseligkeiten im geliebten Wald umher, in der vergeblichen Hoffnung, einst gänzlich sicher vor ihnen zu sein. Oft träumte sie von ihrem Volk und der neuen Heimat. Und von ihm: In nebligen Träumen kam er zurück zu ihr und sie füllte aus Freude den Schnee mit Diamanten an. Ob er nun glücklich war? Hatte er gefunden, was er gesucht? Mit den Jahren verblasste sein Bild in ihren Träumen, bis sie sich fragte, ob sie ihn je geliebt hatte. Leere trat an die Stelle der Liebe zu dem, der sie verlassen hatte, der aber in der Ferne stets sehnsuchtsvoll an sie dachte. In Nächten jedoch, die ohne Mond waren, kamen andere Träume:
Sie ging im Wald umher, und eine tiefe, lauernde Furcht erfüllte sie. Grüne Blätter bedeckten verbrannte Erde. Hinter sich gewahrte sie den Lärm der Menschen. Sie lief schneller, doch mit einem Aufschrei blieb sie plötzlich stehen, denn sie sah ein Schlachtfeld. Eichen, Ulmen, Kiefern, Eschen und all die anderen Bäume, die sie hier erwartet hatte, lagen tot auf der Erde. Inmitten dieser grausigen Lichtung sah sie jemanden, eingehüllt in schwarze Gewänder. Sie wandte sich zur Flucht, doch eine mächtige Stimme rief:
„Stehe und schweige!“
Und sie stand, war gelähmt; unsichtbare Hände drehten sie herum. Ein Wimpernschlag verging, und der schwarze Mann stand vor ihr. Er hielt einen langen Stab in einer Hand, und eine Kapuze tauchte sein Gesicht in Schatten, aus dem nur seine eigentümlichen Augen hervorstachen. Gebannt starrte sie in diese Augen, die ohne Glanz, ohne etwas darin waren. Solches, Augen voller Leere, hatte sie noch niemals gesehen. Bei denen ihres Volkes kündeten die Augen von einer Seele, und auch bei den Menschen hatte sie dies schon hin und wieder gesehen, doch in diesen war nichts. Dann veränderten sie sich. Zuerst sah Erygwen sich selbst in den Augen, dann zeigten sie ihr ein Bild ihres heimatlichen alten Waldes, dessen Bäume allesamt tot und gefallen waren. Dann verschwand das Bild und die Leere kam wieder. Wieder donnerte die Stimme:
„Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“
Dies wiederholte sich, während die Wege des sterbenden Waldes unter ihren Füßen entlang schnellten. „Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“ Sie fand sich bei den Stätten der Ältesten wieder. Alt war hier die Zerstörung von Baum und Blatt. Noch älter waren die Stätten, welche kündeten von Weisheit und unter junger Erde verborgen lagen. Urplötzlich kam ein Sturm auf und befreite die Gemäuer. Sie kam näher und gewahrte einen Stein inmitten von Säulen. Kugelrund war er, und er schimmerte licht und dunkel, war von Stein und von anderer Art. Sie berührte ihn und wurde mit Kraft und Willen erfüllt.
Diese Träume wiederholten sich in den Dunkelheiten ohne Mond. Lange wusste sie nicht, was sie bedeuteten, doch entschloss sie sich eines Tages, zu den alten Stätten zu gehen. Es war ein beschwerlicher und schmerzvoller Weg, entlang verstümmelter Baumstämme, durch karges Land, das einst, vor dem langen Winter, walden gewesen war.
„Sterbender Wald, einmal warst du voller Ruhe und Kraft. Doch nun fallen die Blätter und Nadeln im Frühling, und die Menschen lärmen und töten.“
So sprach Erygwen, und seufzend ging sie weiter, doch wenig Hoffnung erfüllte sie, dass ihre Wanderung dem Wald und ihr Linderung, Rat oder Hilfe bringen würde.
Da traf sie auf drei Menschen: eine alte Frau, einen Mann und ein Kind. Sie waren mit Waffen gegen den Wald gerüstet; selbst das Kind trug eine kleine Axt. Voller Furcht war sie, als sie mit entschlossenen Schritten und wehendem Gewande vor diese hin trat, denn sie hatte gesehen, was Menschen taten, wenn sie etwas nicht kannten oder verstanden. Doch dies ließ sich das Waldmädchen nicht anmerken, als es die Menschen mit erhabener Stimme fragte:
„Warum tut ihr das?“
Dabei wies sie in Richtung der gefallenen Bäume. Und das Kind antwortete:
„Weil es mir Spaß bereitet.“ – „Weil es mich reich macht“, sprach der Mann, und die alte Frau entgegnete: „Weil es nicht anders geht.“
Die Menschen zogen weiter, unbekümmert, und Erygwen blieb ratlos stehen, zornerfüllt. In ihrer Wut erkannte sie, dass die Göttlichen nicht existierten konnten, denn warum ließen sie das Tun der Menschen zu? Nur tote Götter, oder solche, die für diese Welt keine Augen hätten, handelten so. Sie verstand nun ihre düsteren Träume mit dem schwarzen Mann. Dessen spiegelnden Augen hatten ihr ihre Lüge offenbart: Irgendwann würde sie nicht mehr flüchten können, irgendwann wäre ihr geliebter Wald verschwunden, niemals würden die Menschen aufhören. Ob dieser Erkenntnis weinte sie bitterlich und sank nieder auf die kahle Erde. Dort lag sie in Trauer und Mutlosigkeit, während die Sonne am Himmel entlang zog und alle Winkel des Leids beleuchtete.
Irgendwann richtete sie sich wieder auf. Ihr Blick war klar und entschlossen, kündete von neuem Erkennen. Sie war nicht mehr Erygwen, das Waldmädchen. Die, die sie nun war, rief in die kahle Ebene hinein:
„So hört, ihr Menschen! Eriachae, die Waldesrächerin, spricht zu euch! Sterben werdet ihr, wenn ihr mit dem weitermacht, was ihr immer tatet! Beendet es!“
Doch die Menschen hörten nicht, und so wusste sie, dass sie alleine eine Schlacht schlagen würde.
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
Sie wusste nun, was zu tun war. Schnellen Schrittes ging sie ihrem Ziel entgegen.
Eine kleine Furcht hatte sie vor den Stätten der Ältesten, doch eine große Furcht vor dem Kommenden trieb sie weiter an. Sie konnte sich der unsichtbaren Pfade noch gut erinnern. Im Zwielicht eines neuen Morgens erreichte Eriachae den Ort, welchen sie mit dem, den sie einst geliebt, zuletzt gesehen hatte. Es war ein Ort neuen, zaghaften Lebens, durchsetzt von altem Leid und noch älterer Weisheit und Macht. Abgehauene Baumstämme lagen ausgehöhlt, von Getier zerfressen. Moos bedeckte ihre toten Wunden. Efeu rankte auf dem Boden umher, suchend nach Höhe. Einige junge Bäume standen einsam, und Gräser und Blumen hatten sich langsam hier eingefunden. Diese wussten nichts mehr von jenem alten Kampf, die hier einst stattgefunden; hier war das erste Schlachtfeld des Krieges zwischen Mensch und Grün. Die Bilder ihrer Träume standen klar in ihrem Geist, und sofort machte sie sich daran, an der Stelle, wo einmal Säulen gewesen waren, zu graben. Sie stieß mit ihren Händen auf etwas, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Hoffnung glühte in ihr auf; wäre es doch der kugelrunde Stein, den sie im Traum gesehen hatte! Sie fühlte, dass er ihre Waffe sein würde. Doch wusste sie nicht, auf welche Weise. In einer Gier, die fast menschlich war, gruben ihre Hände weiter, bis sie jenen Stein hielten. Er lag auf einer marmornen Platte, die von ihr freigelegt wurde, und in einer Schrift, die nur noch Eriachae lesen konnte, standen diese Worte darauf:
O Seinsstein, der du geschaffen bist von den Großen Gedanken Leben, Tod, Schaffen, Vernichten im Anfang allen Seins des Vierten Zeitalters, mögest du in tugendhafte Hände gehen, denn du ermächtigst sie, die Welten zu verwandeln.
Freude und Furcht gleichermaßen durchdrangen das Mädchen. Vieles hatten ihre Ahnen in den alten Liedern und Geschichten berichtet vom Seinsstein; nun hielt sie ihn in ihren eigenen Händen! Groß war seine Macht, besaß er doch die Urkräfte von Licht, Dunkel, von Stein und dem Nichts. In ihrer Hast und ihrem Hass auf die Vernichter des Waldes verband sie mit Hilfe des mächtigen Steins das Leben der Bäume mit dem Leben der frevlerischen Menschen, und ihren Tod ebenso, auf Gedeih und Verderb. Eriachae erinnerte sich dessen, was sie in ihren Träumen gesehen hatte:
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
So starben auf der Welt, die einst ein einziger großer Wald gewesen war, die Menschen mit den Bäumen, und viele Geschichten und Berichte zeugen davon.
Der Wald, den sie so liebte, den sie, wie sie einst gelobt hatte, erfreuen wollte, war immer kleiner geworden, und also zog Eriachae ihn mit der Kraft des Steins mitsamt seinen Kreaturen aus der Menschenwelt: Er schwebte zwischen jener und der neuen, waldenen Welt ihres Volkes. Hernach verlor sich der Seinsstein im Nichts, denn dies ist seine vierte Wesensart. Ewiger Winter war nun in Eriachaes Wald, und Schnee und Eis tauchten ihn in Schlaf. Versunken in Erinnerung und Schmerz folgte sie dem grauen Nebel. Der Mensch ward sein eigener Schnitter und verfiel dem Chaos. Doch beendete er nicht sein frevlerisches Tun, denn er verstand nicht. So bereute sie zutiefst ihre Tat. Allein, ändern ließ es sich nicht mehr.
Die Jahre schwanden, und aus der Ferne – von Welt zu Welt – sah Eriachae den schwarzen Mann aus ihren Träumen vor Jahrhunderten, und die Menschenwelt ertrank an der Menschenflut.
Und irgendwann fiel die Waldesrächerin in ihren letzten Traum:
Sie beschritt den letzten Pfad und folgte endlich ihrem Volk. Keine einsame Zeit schien vergangen zu sein, und auf der steinernen Brücke stand er. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Vieles hätten sie sich erzählen können von der vergangenen langen Zeit, doch die Worte kamen zögernd. Seine Hände wieder in ihren, und endlich, endlich sein Geständnis der Liebe zwischen ihnen. Doch ihr Herz war der Liebe nicht mehr fähig, nur der Reue. „Ich war Mensch“, sprach sie. So verließ Eriachae die Brücke. Dennoch blieb sie bei ihrem Volk und hoffte auf einen neuen Frühling.
(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)
Schreiben / Manifestiert / Gedanken / Des verworrenen / Kaiserreichs / In Zeiten / Der Flucht.
Blog von Holger Vos.
Sonntag, 28. Mai 2017
Donnerstag, 25. Mai 2017
Eriachae, die Waldesrächerin - Teil 1
Der Gedanke des Lebens hatte den Wald der Welt einst geformt, doch nun begannen Vernichtung und Tod sich seiner zu bemächtigen, und die Bäume wichen zurück. Unter ihnen lebten Wesen, die Blätterschein, Wurzel, Ast und Rindenwuchs besonders liebten. Sie bekamen vom Wald das, was sie brauchten, doch nahmen sie nie viel; bescheiden waren sie, und der Nahrung bedurften sie nur wenig. Kleiner wurde der Wald, bis er nicht mehr die Welt umrundete, sondern nunmehr vereinzelte Landstriche bedeckte. So ging die Zeit dahin unter den Bäumen der Welt, und ihre Lieder sangen die Wesen nur noch selten, denn wie die Bäume, so wichen auch sie vor Zerstörung und Tod. Jene erschienen in Gestalt derer, die sich Menschen nannten. Und wo jene erschienen, gingen sie. In eine Welt würden sie gehen, in welcher alles um sie her licht und walden war – so erzählten sie sich.
Und also verließen sie die Welt, die mehr und mehr von den Menschen bevölkert wurde, auf einem Weg, den niemals eines Menschen Auge erblicken würde. Abschied erfüllte die Lüfte vieler Wälder, und viele, die ihre alte Heimat liebten, vergossen Tränen im nahenden Aufbruch. So auch das Mädchen Erygwen: Sie wollte den Wald, die Bäume, die sie so liebte, nicht verlassen, und je näher der Tag des Abschieds kam, umso fester wurde ihr Entschluss, allein die Jahre unter den Bäumen kommen und schwinden zu sehen. Jedoch liebte sie einen Jüngling, und dieser war entschlossen, mit all den anderen ihrer Art diese Welt zu verlassen. Und so sprachen sie in eiseskalter Luft die letzten Worte zu einander. Sie liebten sich, doch wussten sie es nicht; nie hatten sie es sich gestanden.
„So komme doch mit uns, Erygwen! Hier, einsam und nun fern der Götter, willst du bleiben, und ohne ... mich?“
Er legte all sein Drängen und seine Furcht in diese Worte, denn trotz allen Entschlusses zu gehen fürchtete er sich vor dem Neuen ohne sie. Bleich war sein Gesicht, und zitternd suchten seine Finger ihre warmen Hände, die sie aufnahmen, womöglich zum letzten Mal. Es war Winter; Zeit und Ferne zerrten an seinem Leib und schienen ihn zu entrücken von der steinernen Brücke, auf der sie standen. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Zu beiden Seiten des zugefrorenen Flusses unter ihnen standen Bäume aller Art, und der Schnee machte sie müde. Traurigkeit und Ruhe waren in ihrer Stimme, als Erygwen sprach:
„Die Götter. Nicht dort sind sie, wohin ihr aufbrecht. Hier sind ihre Hallen, deren Wände die schützenden Stämme der Bäume sind und deren Dach von Nadel und Blatt ist. Hier ist ihre Macht! Ich bleibe. So bleibe auch du, ich bitte dich.“
Ohne Hoffnung darauf hatte sie gesprochen, denn alles stand bereits fest. Er jedoch erwiderte:
„O Erygwen, erinnerst du dich nicht an den Tag, der uns so viel Trauer und Furcht brachte? Unsichtbaren Pfaden folgend, zu den Stätten der Ältesten, gingen wir und fanden Zerstörung. Gefallene Bäume; ihr Blut bedeckte die Erde, ihre Wurzeln gruben und suchten umsonst, und dort, wo zahllose Blätter ihre grün schimmernden Lieder gesungen, war Schweigen. Entsetzlich war es! Ich höre noch immer unser Klagen. Die Göttlichen schwinden, so wie wir.“
Lange sagte Erygwen nichts ob der Worte dessen, den sie liebte. Sie folgte dem starren Fluss mit ihrem Schauen, bis dieser sich nach fünfzig Schritten in die Tiefe stürzte. An wärmeren Tagen toste dort das Wasser, doch in diesen Wintertagen war es verstummt, und der Wasserfall stand fest wie ein Baum; schon lange herrschte der Frost. Das letzte Licht der untergehenden Sonne vergoldete das Eis, und die beiden standen schweigend, bis es nicht mehr war. Fahler Schein durchdrang die waldene Halle, und Erygwen fühlte, wie seine Hände ihr allmählich und zögernd entglitten. Sie sah die ihres Volkes, wie sie auf einer Lichtung gingen, umrundet vom alten Wald. Ein tiefer Schmerz fuhr in ihr Herz, als sie gewahrte, dass ihre Schritte, die nicht im Schnee versanken, unhörbar und bereits im Vergehen waren. Das schwache, graubraune Licht drang durch die Schwindenden wie ein durchschauender Blick. Doch sie gab das Licht zurück, blauweiß und strahlend, denn sie würde bleiben. Nur sie würde sich der Schwindenden erinnern in dieser Welt, alles sonst würde Vergessen sein. Langsam kam der Mond herauf. Noch hielten sie sich auf der steinernen Brücke, sahen sich in die Augen, die voller Liebe füreinander waren. Doch kein Wort darüber war zwischen ihnen. Ihrer beider Tränen verschleierten die Bilder voneinander, welche schmerzliche Erinnerung sein und ohnmächtige Sehnsucht werden würden. Nebel umschloss beide ein letztes Mal. Sein langer Mantel flatterte im kalten Wind, doch ihr Gewand hing still herab, wusste der Wind doch, dass sie blieb.
„Wer weiß“, sprach sie, „ob die Götter noch sind, oder je waren? Die Welt ist im Wandel, und der Wald weiß das und trauert. Ich will in ihm sein und ihn erfreuen.“
Ob dieser Worte nahm er seine Hände aus ihren, und träge sank der Nebel als Zeichen des Abschieds zwischen die beiden. Fest, verwurzelt mit dem Waldesboden, stand sie, als er sich den anderen anschloss. Sterne aus Schnee und Eis fielen in ihr Haar, und sie wurden bewahrt vom fahlen, kalten Mond. Sie würde nun die Letzte sein, und sie fragte sich, ob sie je wieder singen würde wie Lerche und Nachtigall oder tanzen wie Regen und Blatt, so wie sie es stets gehalten hatte, wenn sie sich ihres Waldes freute. Sie erhob ihren Arm, der von sanftem Stoff umgeben war, öffnete ihre zarte Hand zum letzten Gruße, doch er schaute sich nicht mehr um; und leise flüsternd gestand sie ihm ihre Liebe, doch er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte waren wurzellos, sein Blick suchend nach etwas, das er nicht kannte. Vielen, die mit ihm waren, erging es so.
Erygwen stand noch lange auf der steinernen Brücke, und ihr Schauen hing lange an ihm. Einem göttlichen Segen gleich fiel feiner, glitzernder Schnee von den Tannen auf die Schwindenden hernieder. Bald waren ihre Lichter vergangen, wie Zwielicht vom Dunkel der Nacht verdrängt. In der Mitte der Nacht ahnte sie von fern her ihre Stimmen, die voller Ende ein trauriges Lied sangen:
O Flut der mächt´gen Erdenstrahlen,
missen werden wir deine Lichter,
geschaffen von Baum, von Erd´ und Schnee.
Wandelnd waren wir in grüner Welt,
priesen deinen Glanz; nun kommt die Zeit,
dich zu verlassen, da Schwärze droht.
Unser Gang beschert uns ew´ges Glück,
doch stets schmerzt der Trauer tiefer Stich
in den Herzen, da wir dich verließen.
Hernach zog Stille zwischen den Stämmen und Ästen umher. „Ihr werdet nichts finden“, sagte sie, und dies waren die letzten Worte, die Erygwen an die richtete, die sie verlassen hatten. Ihre Tränen wurden im Weiß diamantengleich.
- Fortsetzung folgt -
(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)
Und also verließen sie die Welt, die mehr und mehr von den Menschen bevölkert wurde, auf einem Weg, den niemals eines Menschen Auge erblicken würde. Abschied erfüllte die Lüfte vieler Wälder, und viele, die ihre alte Heimat liebten, vergossen Tränen im nahenden Aufbruch. So auch das Mädchen Erygwen: Sie wollte den Wald, die Bäume, die sie so liebte, nicht verlassen, und je näher der Tag des Abschieds kam, umso fester wurde ihr Entschluss, allein die Jahre unter den Bäumen kommen und schwinden zu sehen. Jedoch liebte sie einen Jüngling, und dieser war entschlossen, mit all den anderen ihrer Art diese Welt zu verlassen. Und so sprachen sie in eiseskalter Luft die letzten Worte zu einander. Sie liebten sich, doch wussten sie es nicht; nie hatten sie es sich gestanden.
„So komme doch mit uns, Erygwen! Hier, einsam und nun fern der Götter, willst du bleiben, und ohne ... mich?“
Er legte all sein Drängen und seine Furcht in diese Worte, denn trotz allen Entschlusses zu gehen fürchtete er sich vor dem Neuen ohne sie. Bleich war sein Gesicht, und zitternd suchten seine Finger ihre warmen Hände, die sie aufnahmen, womöglich zum letzten Mal. Es war Winter; Zeit und Ferne zerrten an seinem Leib und schienen ihn zu entrücken von der steinernen Brücke, auf der sie standen. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Zu beiden Seiten des zugefrorenen Flusses unter ihnen standen Bäume aller Art, und der Schnee machte sie müde. Traurigkeit und Ruhe waren in ihrer Stimme, als Erygwen sprach:
„Die Götter. Nicht dort sind sie, wohin ihr aufbrecht. Hier sind ihre Hallen, deren Wände die schützenden Stämme der Bäume sind und deren Dach von Nadel und Blatt ist. Hier ist ihre Macht! Ich bleibe. So bleibe auch du, ich bitte dich.“
Ohne Hoffnung darauf hatte sie gesprochen, denn alles stand bereits fest. Er jedoch erwiderte:
„O Erygwen, erinnerst du dich nicht an den Tag, der uns so viel Trauer und Furcht brachte? Unsichtbaren Pfaden folgend, zu den Stätten der Ältesten, gingen wir und fanden Zerstörung. Gefallene Bäume; ihr Blut bedeckte die Erde, ihre Wurzeln gruben und suchten umsonst, und dort, wo zahllose Blätter ihre grün schimmernden Lieder gesungen, war Schweigen. Entsetzlich war es! Ich höre noch immer unser Klagen. Die Göttlichen schwinden, so wie wir.“
Lange sagte Erygwen nichts ob der Worte dessen, den sie liebte. Sie folgte dem starren Fluss mit ihrem Schauen, bis dieser sich nach fünfzig Schritten in die Tiefe stürzte. An wärmeren Tagen toste dort das Wasser, doch in diesen Wintertagen war es verstummt, und der Wasserfall stand fest wie ein Baum; schon lange herrschte der Frost. Das letzte Licht der untergehenden Sonne vergoldete das Eis, und die beiden standen schweigend, bis es nicht mehr war. Fahler Schein durchdrang die waldene Halle, und Erygwen fühlte, wie seine Hände ihr allmählich und zögernd entglitten. Sie sah die ihres Volkes, wie sie auf einer Lichtung gingen, umrundet vom alten Wald. Ein tiefer Schmerz fuhr in ihr Herz, als sie gewahrte, dass ihre Schritte, die nicht im Schnee versanken, unhörbar und bereits im Vergehen waren. Das schwache, graubraune Licht drang durch die Schwindenden wie ein durchschauender Blick. Doch sie gab das Licht zurück, blauweiß und strahlend, denn sie würde bleiben. Nur sie würde sich der Schwindenden erinnern in dieser Welt, alles sonst würde Vergessen sein. Langsam kam der Mond herauf. Noch hielten sie sich auf der steinernen Brücke, sahen sich in die Augen, die voller Liebe füreinander waren. Doch kein Wort darüber war zwischen ihnen. Ihrer beider Tränen verschleierten die Bilder voneinander, welche schmerzliche Erinnerung sein und ohnmächtige Sehnsucht werden würden. Nebel umschloss beide ein letztes Mal. Sein langer Mantel flatterte im kalten Wind, doch ihr Gewand hing still herab, wusste der Wind doch, dass sie blieb.
„Wer weiß“, sprach sie, „ob die Götter noch sind, oder je waren? Die Welt ist im Wandel, und der Wald weiß das und trauert. Ich will in ihm sein und ihn erfreuen.“
Ob dieser Worte nahm er seine Hände aus ihren, und träge sank der Nebel als Zeichen des Abschieds zwischen die beiden. Fest, verwurzelt mit dem Waldesboden, stand sie, als er sich den anderen anschloss. Sterne aus Schnee und Eis fielen in ihr Haar, und sie wurden bewahrt vom fahlen, kalten Mond. Sie würde nun die Letzte sein, und sie fragte sich, ob sie je wieder singen würde wie Lerche und Nachtigall oder tanzen wie Regen und Blatt, so wie sie es stets gehalten hatte, wenn sie sich ihres Waldes freute. Sie erhob ihren Arm, der von sanftem Stoff umgeben war, öffnete ihre zarte Hand zum letzten Gruße, doch er schaute sich nicht mehr um; und leise flüsternd gestand sie ihm ihre Liebe, doch er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte waren wurzellos, sein Blick suchend nach etwas, das er nicht kannte. Vielen, die mit ihm waren, erging es so.
Erygwen stand noch lange auf der steinernen Brücke, und ihr Schauen hing lange an ihm. Einem göttlichen Segen gleich fiel feiner, glitzernder Schnee von den Tannen auf die Schwindenden hernieder. Bald waren ihre Lichter vergangen, wie Zwielicht vom Dunkel der Nacht verdrängt. In der Mitte der Nacht ahnte sie von fern her ihre Stimmen, die voller Ende ein trauriges Lied sangen:
O Flut der mächt´gen Erdenstrahlen,
missen werden wir deine Lichter,
geschaffen von Baum, von Erd´ und Schnee.
Wandelnd waren wir in grüner Welt,
priesen deinen Glanz; nun kommt die Zeit,
dich zu verlassen, da Schwärze droht.
Unser Gang beschert uns ew´ges Glück,
doch stets schmerzt der Trauer tiefer Stich
in den Herzen, da wir dich verließen.
Hernach zog Stille zwischen den Stämmen und Ästen umher. „Ihr werdet nichts finden“, sagte sie, und dies waren die letzten Worte, die Erygwen an die richtete, die sie verlassen hatten. Ihre Tränen wurden im Weiß diamantengleich.
- Fortsetzung folgt -
(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)
Sonntag, 21. Mai 2017
Eine weitere Geschichte mit dem "Stein des Seins" - Eriachae
Die zweite Geschichte, in welcher der geheimnisvolle Stein eine Rolle spielt, handelt von einem Elbenmädchen namens Erygwen. Ihr Volk verlässt den Wald der Welt, weil die Menschen - besitzergreifend, gierig und dumm - ihn abholzen. Aber sie will ihrer waldenen Heimat treu bleiben, auch wenn das die Trennung von ihrem Liebsten bedeutet. In ihrer Wut auf die Eindringlinge trifft sie eine folgenschwere, aber gerechte Entscheidung, und sie nennt sich fortan Eriachae, die Waldesrächerin...
Hier ein Bild von ihr, von Anke Vos gefertigt:
Quelle: Blog von Anke Vos.
Hier ein Bild von ihr, von Anke Vos gefertigt:
Quelle: Blog von Anke Vos.
Sonntag, 14. Mai 2017
Prinz Egbert und die Hoffnung
Es heißt, die Hoffnung sterbe zuletzt. Wie lange kann ein Mensch hoffend ausharren? Ein ganzes Leben lang, oder nur eine begrenzte Zeitspanne? Ich habe für die Anthologie "Geschichten von der einsamen Burg" des Alea Libris-Verlages eine Geschichte ersonnen, in der die Fähigkeit zur Hoffnung eine bedeutende Rolle spielt.
Es wäre toll, wenn wohlwollende Leser_innen hier klicken würden ;-)
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Samstag, 6. Mai 2017
Der Stein des Seins - Anthologie "Elfentanz und Feenstaub"
Der Stein des Seins spielt in mehreren meiner Geschichten eine Rolle, wobei sein Wesen nicht völlig geklärt ist: Deutlich wird aber, dass dieser Stein ein mächtiges Werkzeug ist, um Dinge zu manipulieren, und dass er als Waffe missbraucht werden kann...
In meiner Geschichte "Der Stein des Seins", die in der Anthologie "Elfentanz und Feenstaub" (Sperling-Verlag) erschienen ist, geht es um zwei unterschiedliche Völker, die sich bekriegen: die Geflügelten und die Feuermenschen. Ein junger Mann namens Aram steht zwischen ihnen und muss sich für eine der beiden Seiten entscheiden...
"Wer jenen Stein sein Eigen nannte, konnte alles tun, hieß es. Ich stellte mir vor, ihn endlich in meinen Händen zu halten. Schon immer hatte ich vom Seinsstein gewusst, schon immer ihn gewollt."
In meiner Geschichte "Der Stein des Seins", die in der Anthologie "Elfentanz und Feenstaub" (Sperling-Verlag) erschienen ist, geht es um zwei unterschiedliche Völker, die sich bekriegen: die Geflügelten und die Feuermenschen. Ein junger Mann namens Aram steht zwischen ihnen und muss sich für eine der beiden Seiten entscheiden...
"Wer jenen Stein sein Eigen nannte, konnte alles tun, hieß es. Ich stellte mir vor, ihn endlich in meinen Händen zu halten. Schon immer hatte ich vom Seinsstein gewusst, schon immer ihn gewollt."
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