Schreiben / Manifestiert / Gedanken / Des verworrenen / Kaiserreichs / In Zeiten / Der Flucht.


Blog von Holger Vos.

Dienstag, 31. Oktober 2017

Herbstbeobachtungen


wütende Winde entzerren Ästen Sterbendes
träumerisch atmen Himmel Wolken vorbei
Blätter lodern jetzt samtig in die Erdengruft
und tausend Sonnen verwesen im Dämmernebel

(c) HV

Dienstag, 3. Oktober 2017

"Licht GmbH" im IF-Magazin von Whitetrain

Diese Story erzählt die Geschichte von Christof, der eine Ausbildung zum Feuerwerker beginnt... und bald merkt er, dass alles nicht so harmlos ist, wie es scheint.



Hier der Link zu Whitetrain...

Und wer das IF-Magazin No. 666 (Horror!) erwerben möchte, klickt hier.

Sonntag, 3. September 2017

Das Totenschiff

Im Wölfchen-Verlag aus Syke bei Bremen erscheinen seit 2013 Sammlungen mit Kurzgeschichten, welche die alten altnordischen Erzählungen um Odin, Thor und Loki ergänzen sollen. Unter dem Titel "Yggdrasil der Weltenbaum" erscheinen diese Anthologien, die eine schöne Textauswahl und gute Unterhaltung bieten.

Im zweiten Band - "Yggdrasil der Weltenbaum - Fenrir und Loki" - ist meine Geschichte "Das Totenschiff" mit vertreten, was mich sehr freut. Darin geht es um Loki und seine Tochter, und darum, dass Loki eigentlich ein missverstandener Charakter ist...

Der "Soundtrack" zu dieser Loki-Erzählung ist für mich persönlich der Titel "As Loke Falls" von Amon Amarth. (Leider kann das passende Video nicht hier eingebettet werden, deshalb nur der Link.)

Samstag, 12. August 2017

Weisheit aus Fernost

Hätte Abel
Karate gekonnt
Wäre das alles
Nicht passiert.

(c) HV (2011)

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Dieses augenzwinkernde Kurzgedicht entstand 2011 und erschien 2012 im Sammelband "Ausgewählte Werke XV" der Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichtes.

Mittwoch, 12. Juli 2017

Zwei Texte in "Magische Kurzgeschichten Band 3"

"Hadubrants Reise" markiert den Beginn intensiveren Schreibens. Nach einer OP hatte ich Zeit für Erholung und endlich einmal wieder Muße, sodass ich kreativ werden konnte. Seither - September 2014 - nehme ich mir viel mehr Zeit fürs Schreiben.
Die o. g. Geschichte greift das Hildebrandslied auf: Vater und Sohn, einander nicht bekannt, begegnen sich auf dem Schlachtfeld. Wie der Kampf ausgeht, ist nicht sicher überliefert...
Auf der Seite des Schwarzer Drachen Verlages findet man folgende Info zu meiner Geschichte:

"Hadubrants Reise von Holger Vos:
Hadubrant erwarb sich einen Ruf als mutiger Kämpfer. Er raufte gern und war sich nie für einen Zweikampf zu schade. Es gefiel ihm, wenn die Mädchen nach ihm schauten. Als Junge hatte er nie die strenge Zucht eines Vaters erlebt, und so wuchsen seine Kräfte ohne Ziel, ohne Demut vor dem Älteren, der meist auch Herr war.
Sein Vater, der vor vielen Jahren die Familie zurückließ, ist sein Held und Vorbild. Doch eines Tages steht er ihm im Schlachtfeld gegenüber."
(Quelle)


Die zweite Geschichte im dritten Band der "Magischen Kurzgeschichten" ist "Der graue Turm". Dazu heißt es:

"Der graue Turm von Holger Vos:
Ein paar Neonlampen an der fernen Decke des Großraumbüros flackerten einschläfernd. Die Luft war trocken und stickig. Roland hörte dumpfes Gemurmel und geschäftiges Tippen auf den Tastaturen. Er saß gekrümmt an seinem Schreibtisch, auf dem sich Materialien zum Thema Hirnforschung türmten, und starrte auf einen strahlend weißen Bildschirm. Der Cursor blinkte auffordernd. Er seufzte. Wann hatte das alles begonnen, keinen Sinn mehr zu machen?
Die Realität ist immer das, was man selbst aus ihr macht. Roland ist verzweifelt, doch es gelingt ihm, sich aus der Starre zu lösen. Nur – in welche Realität führt ihn das?"
(Quelle)

Samstag, 24. Juni 2017

Der Wanderer - "Magische Kurzgeschichten Band 2"

Vor ein paar Wochen ist Band 2 der "Magischen Kurzgeschichten" im Schwarzer Drachen Verlag erschienen! Mein Text "Der Wanderer" erzählt die Geschichte von Fenrir, dem größten und fürchterlichsten aller Wölfe in der altnordischen Mythologie.
Hier ein Zitat von der Verlagsseite:

"Der Wanderer von Holger Vos:
Tief unter der Erde Midgards, in einer Höhle, die das Licht vergessen hat, liegt Fenrir gefesselt. Seit ungezählten Jahrhunderten hält ihn die filigrane, von Zwergen gefertigte Fessel auf einer schweren Steinplatte gefangen.
Der Autor erzählt die Mythologie von dem größten und gefährlichsten aller Wölfe aus der Sicht von Fenris persönlich …" (Link zur Quelle)

...doch wer ist der Wanderer? Das erfährt man nur durch Lesen :-)


Freitag, 16. Juni 2017

Sprache und das Machen von Kunst

Die Sprache ist ein mächtiges Werkzeug für die Konstruktion dessen, was wir "die Welt" und "das Leben" nennen. Mit unseren zahllosen Begriffen für die Dinge um uns herum schaffen wir uns eine mehr oder weniger verbindliche Umwelt, auf die wir uns meist irgendwie einigen. Manchmal ist es einzig die Sprache, ein Wort, das einen unscheinbaren Gegenstand zu einem Kunstobjekt macht.
Für eine Ausstellung in Bad Effelsberg - in der Künstlerinnen-Galerie "option.265 - Der Kunstraum" - haben meine Familie und ich kleine "Kunstkissen" gestaltet. Ich - in Ermangelung eines malerischen oder näherischen Talents - nahm zwei unscheinbare Holzstücke zur Hand, brachte sie in Form, schmirgelte die Kanten glatt und - benannte sie: "verlassen" und "verloren". Fertig waren zwei Kunstobjekte:



Sonntag, 28. Mai 2017

Eriachae, die Waldesrächerin - Teil 2

Nach der Abschiedsnacht kamen mit dem neuen Morgen die Menschen. Schwärze brachten sie mit sich, und sie brach Licht und Baum im alten Wald. Das Waldmädchen verbarg sich im Gewand des Waldes, und so entkam sie stets der Unheil bringenden Schwärze. Niemals wieder fiel das Wasser des Flusses golden den Abhang hinab, wie es am Abend ihres großen Verlustes geschehen war, doch es floss und fiel, wie die Jahre hinab ins Dunkel der Vergangenheit. Mit dem Schwinden ihres Volkes war diese Welt gefallen in tiefe Trübnis, und in dieser grauen und einsamen Zeit stahlen sich Sehnsucht, Furcht und Zorn in Erygwens Herz, währenddessen die Menschen mit Gier in den stumpfen Augen und Wut in den zerstörerischen Händen das Antlitz des Waldes entstellten. Immer flüchtete sie vor ihnen, zog mit ihren wenigen Habseligkeiten im geliebten Wald umher, in der vergeblichen Hoffnung, einst gänzlich sicher vor ihnen zu sein. Oft träumte sie von ihrem Volk und der neuen Heimat. Und von ihm: In nebligen Träumen kam er zurück zu ihr und sie füllte aus Freude den Schnee mit Diamanten an. Ob er nun glücklich war? Hatte er gefunden, was er gesucht? Mit den Jahren verblasste sein Bild in ihren Träumen, bis sie sich fragte, ob sie ihn je geliebt hatte. Leere trat an die Stelle der Liebe zu dem, der sie verlassen hatte, der aber in der Ferne stets sehnsuchtsvoll an sie dachte. In Nächten jedoch, die ohne Mond waren, kamen andere Träume:

Sie ging im Wald umher, und eine tiefe, lauernde Furcht erfüllte sie. Grüne Blätter bedeckten verbrannte Erde. Hinter sich gewahrte sie den Lärm der Menschen. Sie lief schneller, doch mit einem Aufschrei blieb sie plötzlich stehen, denn sie sah ein Schlachtfeld. Eichen, Ulmen, Kiefern, Eschen und all die anderen Bäume, die sie hier erwartet hatte, lagen tot auf der Erde. Inmitten dieser grausigen Lichtung sah sie jemanden, eingehüllt in schwarze Gewänder. Sie wandte sich zur Flucht, doch eine mächtige Stimme rief:
„Stehe und schweige!“
Und sie stand, war gelähmt; unsichtbare Hände drehten sie herum. Ein Wimpernschlag verging, und der schwarze Mann stand vor ihr. Er hielt einen langen Stab in einer Hand, und eine Kapuze tauchte sein Gesicht in Schatten, aus dem nur seine eigentümlichen Augen hervorstachen. Gebannt starrte sie in diese Augen, die ohne Glanz, ohne etwas darin waren. Solches, Augen voller Leere, hatte sie noch niemals gesehen. Bei denen ihres Volkes kündeten die Augen von einer Seele, und auch bei den Menschen hatte sie dies schon hin und wieder gesehen, doch in diesen war nichts. Dann veränderten sie sich. Zuerst sah Erygwen sich selbst in den Augen, dann zeigten sie ihr ein Bild ihres heimatlichen alten Waldes, dessen Bäume allesamt tot und gefallen waren. Dann verschwand das Bild und die Leere kam wieder. Wieder donnerte die Stimme:
„Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“
Dies wiederholte sich, während die Wege des sterbenden Waldes unter ihren Füßen entlang schnellten. „Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“ Sie fand sich bei den Stätten der Ältesten wieder. Alt war hier die Zerstörung von Baum und Blatt. Noch älter waren die Stätten, welche kündeten von Weisheit und unter junger Erde verborgen lagen. Urplötzlich kam ein Sturm auf und befreite die Gemäuer. Sie kam näher und gewahrte einen Stein inmitten von Säulen. Kugelrund war er, und er schimmerte licht und dunkel, war von Stein und von anderer Art. Sie berührte ihn und wurde mit Kraft und Willen erfüllt.


Diese Träume wiederholten sich in den Dunkelheiten ohne Mond. Lange wusste sie nicht, was sie bedeuteten, doch entschloss sie sich eines Tages, zu den alten Stätten zu gehen. Es war ein beschwerlicher und schmerzvoller Weg, entlang verstümmelter Baumstämme, durch karges Land, das einst, vor dem langen Winter, walden gewesen war.
„Sterbender Wald, einmal warst du voller Ruhe und Kraft. Doch nun fallen die Blätter und Nadeln im Frühling, und die Menschen lärmen und töten.“
So sprach Erygwen, und seufzend ging sie weiter, doch wenig Hoffnung erfüllte sie, dass ihre Wanderung dem Wald und ihr Linderung, Rat oder Hilfe bringen würde.
Da traf sie auf drei Menschen: eine alte Frau, einen Mann und ein Kind. Sie waren mit Waffen gegen den Wald gerüstet; selbst das Kind trug eine kleine Axt. Voller Furcht war sie, als sie mit entschlossenen Schritten und wehendem Gewande vor diese hin trat, denn sie hatte gesehen, was Menschen taten, wenn sie etwas nicht kannten oder verstanden. Doch dies ließ sich das Waldmädchen nicht anmerken, als es die Menschen mit erhabener Stimme fragte:
„Warum tut ihr das?“
Dabei wies sie in Richtung der gefallenen Bäume. Und das Kind antwortete:
„Weil es mir Spaß bereitet.“ – „Weil es mich reich macht“, sprach der Mann, und die alte Frau entgegnete: „Weil es nicht anders geht.“
Die Menschen zogen weiter, unbekümmert, und Erygwen blieb ratlos stehen, zornerfüllt. In ihrer Wut erkannte sie, dass die Göttlichen nicht existierten konnten, denn warum ließen sie das Tun der Menschen zu? Nur tote Götter, oder solche, die für diese Welt keine Augen hätten, handelten so. Sie verstand nun ihre düsteren Träume mit dem schwarzen Mann. Dessen spiegelnden Augen hatten ihr ihre Lüge offenbart: Irgendwann würde sie nicht mehr flüchten können, irgendwann wäre ihr geliebter Wald verschwunden, niemals würden die Menschen aufhören. Ob dieser Erkenntnis weinte sie bitterlich und sank nieder auf die kahle Erde. Dort lag sie in Trauer und Mutlosigkeit, während die Sonne am Himmel entlang zog und alle Winkel des Leids beleuchtete.
Irgendwann richtete sie sich wieder auf. Ihr Blick war klar und entschlossen, kündete von neuem Erkennen. Sie war nicht mehr Erygwen, das Waldmädchen. Die, die sie nun war, rief in die kahle Ebene hinein:
„So hört, ihr Menschen! Eriachae, die Waldesrächerin, spricht zu euch! Sterben werdet ihr, wenn ihr mit dem weitermacht, was ihr immer tatet! Beendet es!“
Doch die Menschen hörten nicht, und so wusste sie, dass sie alleine eine Schlacht schlagen würde.
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
Sie wusste nun, was zu tun war. Schnellen Schrittes ging sie ihrem Ziel entgegen.

Eine kleine Furcht hatte sie vor den Stätten der Ältesten, doch eine große Furcht vor dem Kommenden trieb sie weiter an. Sie konnte sich der unsichtbaren Pfade noch gut erinnern. Im Zwielicht eines neuen Morgens erreichte Eriachae den Ort, welchen sie mit dem, den sie einst geliebt, zuletzt gesehen hatte. Es war ein Ort neuen, zaghaften Lebens, durchsetzt von altem Leid und noch älterer Weisheit und Macht. Abgehauene Baumstämme lagen ausgehöhlt, von Getier zerfressen. Moos bedeckte ihre toten Wunden. Efeu rankte auf dem Boden umher, suchend nach Höhe. Einige junge Bäume standen einsam, und Gräser und Blumen hatten sich langsam hier eingefunden. Diese wussten nichts mehr von jenem alten Kampf, die hier einst stattgefunden; hier war das erste Schlachtfeld des Krieges zwischen Mensch und Grün. Die Bilder ihrer Träume standen klar in ihrem Geist, und sofort machte sie sich daran, an der Stelle, wo einmal Säulen gewesen waren, zu graben. Sie stieß mit ihren Händen auf etwas, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Hoffnung glühte in ihr auf; wäre es doch der kugelrunde Stein, den sie im Traum gesehen hatte! Sie fühlte, dass er ihre Waffe sein würde. Doch wusste sie nicht, auf welche Weise. In einer Gier, die fast menschlich war, gruben ihre Hände weiter, bis sie jenen Stein hielten. Er lag auf einer marmornen Platte, die von ihr freigelegt wurde, und in einer Schrift, die nur noch Eriachae lesen konnte, standen diese Worte darauf:

O Seinsstein, der du geschaffen bist von den Großen Gedanken Leben, Tod, Schaffen, Vernichten im Anfang allen Seins des Vierten Zeitalters, mögest du in tugendhafte Hände gehen, denn du ermächtigst sie, die Welten zu verwandeln.

Freude und Furcht gleichermaßen durchdrangen das Mädchen. Vieles hatten ihre Ahnen in den alten Liedern und Geschichten berichtet vom Seinsstein; nun hielt sie ihn in ihren eigenen Händen! Groß war seine Macht, besaß er doch die Urkräfte von Licht, Dunkel, von Stein und dem Nichts. In ihrer Hast und ihrem Hass auf die Vernichter des Waldes verband sie mit Hilfe des mächtigen Steins das Leben der Bäume mit dem Leben der frevlerischen Menschen, und ihren Tod ebenso, auf Gedeih und Verderb. Eriachae erinnerte sich dessen, was sie in ihren Träumen gesehen hatte:
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
So starben auf der Welt, die einst ein einziger großer Wald gewesen war, die Menschen mit den Bäumen, und viele Geschichten und Berichte zeugen davon.

Der Wald, den sie so liebte, den sie, wie sie einst gelobt hatte, erfreuen wollte, war immer kleiner geworden, und also zog Eriachae ihn mit der Kraft des Steins mitsamt seinen Kreaturen aus der Menschenwelt: Er schwebte zwischen jener und der neuen, waldenen Welt ihres Volkes. Hernach verlor sich der Seinsstein im Nichts, denn dies ist seine vierte Wesensart. Ewiger Winter war nun in Eriachaes Wald, und Schnee und Eis tauchten ihn in Schlaf. Versunken in Erinnerung und Schmerz folgte sie dem grauen Nebel. Der Mensch ward sein eigener Schnitter und verfiel dem Chaos. Doch beendete er nicht sein frevlerisches Tun, denn er verstand nicht. So bereute sie zutiefst ihre Tat. Allein, ändern ließ es sich nicht mehr.
Die Jahre schwanden, und aus der Ferne – von Welt zu Welt – sah Eriachae den schwarzen Mann aus ihren Träumen vor Jahrhunderten, und die Menschenwelt ertrank an der Menschenflut.
Und irgendwann fiel die Waldesrächerin in ihren letzten Traum:

Sie beschritt den letzten Pfad und folgte endlich ihrem Volk. Keine einsame Zeit schien vergangen zu sein, und auf der steinernen Brücke stand er. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Vieles hätten sie sich erzählen können von der vergangenen langen Zeit, doch die Worte kamen zögernd. Seine Hände wieder in ihren, und endlich, endlich sein Geständnis der Liebe zwischen ihnen. Doch ihr Herz war der Liebe nicht mehr fähig, nur der Reue. „Ich war Mensch“, sprach sie. So verließ Eriachae die Brücke. Dennoch blieb sie bei ihrem Volk und hoffte auf einen neuen Frühling.

(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)

Donnerstag, 25. Mai 2017

Eriachae, die Waldesrächerin - Teil 1

Der Gedanke des Lebens hatte den Wald der Welt einst geformt, doch nun begannen Vernichtung und Tod sich seiner zu bemächtigen, und die Bäume wichen zurück. Unter ihnen lebten Wesen, die Blätterschein, Wurzel, Ast und Rindenwuchs besonders liebten. Sie bekamen vom Wald das, was sie brauchten, doch nahmen sie nie viel; bescheiden waren sie, und der Nahrung bedurften sie nur wenig. Kleiner wurde der Wald, bis er nicht mehr die Welt umrundete, sondern nunmehr vereinzelte Landstriche bedeckte. So ging die Zeit dahin unter den Bäumen der Welt, und ihre Lieder sangen die Wesen nur noch selten, denn wie die Bäume, so wichen auch sie vor Zerstörung und Tod. Jene erschienen in Gestalt derer, die sich Menschen nannten. Und wo jene erschienen, gingen sie. In eine Welt würden sie gehen, in welcher alles um sie her licht und walden war – so erzählten sie sich.

Und also verließen sie die Welt, die mehr und mehr von den Menschen bevölkert wurde, auf einem Weg, den niemals eines Menschen Auge erblicken würde. Abschied erfüllte die Lüfte vieler Wälder, und viele, die ihre alte Heimat liebten, vergossen Tränen im nahenden Aufbruch. So auch das Mädchen Erygwen: Sie wollte den Wald, die Bäume, die sie so liebte, nicht verlassen, und je näher der Tag des Abschieds kam, umso fester wurde ihr Entschluss, allein die Jahre unter den Bäumen kommen und schwinden zu sehen. Jedoch liebte sie einen Jüngling, und dieser war entschlossen, mit all den anderen ihrer Art diese Welt zu verlassen. Und so sprachen sie in eiseskalter Luft die letzten Worte zu einander. Sie liebten sich, doch wussten sie es nicht; nie hatten sie es sich gestanden.
„So komme doch mit uns, Erygwen! Hier, einsam und nun fern der Götter, willst du bleiben, und ohne ... mich?“
Er legte all sein Drängen und seine Furcht in diese Worte, denn trotz allen Entschlusses zu gehen fürchtete er sich vor dem Neuen ohne sie. Bleich war sein Gesicht, und zitternd suchten seine Finger ihre warmen Hände, die sie aufnahmen, womöglich zum letzten Mal. Es war Winter; Zeit und Ferne zerrten an seinem Leib und schienen ihn zu entrücken von der steinernen Brücke, auf der sie standen. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Zu beiden Seiten des zugefrorenen Flusses unter ihnen standen Bäume aller Art, und der Schnee machte sie müde. Traurigkeit und Ruhe waren in ihrer Stimme, als Erygwen sprach:
„Die Götter. Nicht dort sind sie, wohin ihr aufbrecht. Hier sind ihre Hallen, deren Wände die schützenden Stämme der Bäume sind und deren Dach von Nadel und Blatt ist. Hier ist ihre Macht! Ich bleibe. So bleibe auch du, ich bitte dich.“
Ohne Hoffnung darauf hatte sie gesprochen, denn alles stand bereits fest. Er jedoch erwiderte:
„O Erygwen, erinnerst du dich nicht an den Tag, der uns so viel Trauer und Furcht brachte? Unsichtbaren Pfaden folgend, zu den Stätten der Ältesten, gingen wir und fanden Zerstörung. Gefallene Bäume; ihr Blut bedeckte die Erde, ihre Wurzeln gruben und suchten umsonst, und dort, wo zahllose Blätter ihre grün schimmernden Lieder gesungen, war Schweigen. Entsetzlich war es! Ich höre noch immer unser Klagen. Die Göttlichen schwinden, so wie wir.“

Lange sagte Erygwen nichts ob der Worte dessen, den sie liebte. Sie folgte dem starren Fluss mit ihrem Schauen, bis dieser sich nach fünfzig Schritten in die Tiefe stürzte. An wärmeren Tagen toste dort das Wasser, doch in diesen Wintertagen war es verstummt, und der Wasserfall stand fest wie ein Baum; schon lange herrschte der Frost. Das letzte Licht der untergehenden Sonne vergoldete das Eis, und die beiden standen schweigend, bis es nicht mehr war. Fahler Schein durchdrang die waldene Halle, und Erygwen fühlte, wie seine Hände ihr allmählich und zögernd entglitten. Sie sah die ihres Volkes, wie sie auf einer Lichtung gingen, umrundet vom alten Wald. Ein tiefer Schmerz fuhr in ihr Herz, als sie gewahrte, dass ihre Schritte, die nicht im Schnee versanken, unhörbar und bereits im Vergehen waren. Das schwache, graubraune Licht drang durch die Schwindenden wie ein durchschauender Blick. Doch sie gab das Licht zurück, blauweiß und strahlend, denn sie würde bleiben. Nur sie würde sich der Schwindenden erinnern in dieser Welt, alles sonst würde Vergessen sein. Langsam kam der Mond herauf. Noch hielten sie sich auf der steinernen Brücke, sahen sich in die Augen, die voller Liebe füreinander waren. Doch kein Wort darüber war zwischen ihnen. Ihrer beider Tränen verschleierten die Bilder voneinander, welche schmerzliche Erinnerung sein und ohnmächtige Sehnsucht werden würden. Nebel umschloss beide ein letztes Mal. Sein langer Mantel flatterte im kalten Wind, doch ihr Gewand hing still herab, wusste der Wind doch, dass sie blieb.
„Wer weiß“, sprach sie, „ob die Götter noch sind, oder je waren? Die Welt ist im Wandel, und der Wald weiß das und trauert. Ich will in ihm sein und ihn erfreuen.“
Ob dieser Worte nahm er seine Hände aus ihren, und träge sank der Nebel als Zeichen des Abschieds zwischen die beiden. Fest, verwurzelt mit dem Waldesboden, stand sie, als er sich den anderen anschloss. Sterne aus Schnee und Eis fielen in ihr Haar, und sie wurden bewahrt vom fahlen, kalten Mond. Sie würde nun die Letzte sein, und sie fragte sich, ob sie je wieder singen würde wie Lerche und Nachtigall oder tanzen wie Regen und Blatt, so wie sie es stets gehalten hatte, wenn sie sich ihres Waldes freute. Sie erhob ihren Arm, der von sanftem Stoff umgeben war, öffnete ihre zarte Hand zum letzten Gruße, doch er schaute sich nicht mehr um; und leise flüsternd gestand sie ihm ihre Liebe, doch er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte waren wurzellos, sein Blick suchend nach etwas, das er nicht kannte. Vielen, die mit ihm waren, erging es so.

Erygwen stand noch lange auf der steinernen Brücke, und ihr Schauen hing lange an ihm. Einem göttlichen Segen gleich fiel feiner, glitzernder Schnee von den Tannen auf die Schwindenden hernieder. Bald waren ihre Lichter  vergangen, wie Zwielicht vom Dunkel der Nacht verdrängt. In der Mitte der Nacht ahnte sie von fern her ihre Stimmen, die voller Ende ein trauriges Lied sangen:

O Flut der mächt´gen Erdenstrahlen,
missen werden wir deine Lichter,
geschaffen von Baum, von Erd´ und Schnee.
Wandelnd waren wir in grüner Welt,
priesen deinen Glanz; nun kommt die Zeit,
dich zu verlassen, da Schwärze droht.
Unser Gang beschert uns ew´ges Glück,
doch stets schmerzt der Trauer tiefer Stich
in den Herzen, da wir dich verließen.
 

Hernach zog Stille zwischen den Stämmen und Ästen umher. „Ihr werdet nichts finden“, sagte sie, und dies waren die letzten Worte, die Erygwen an die richtete, die sie verlassen hatten. Ihre Tränen wurden im Weiß diamantengleich.

- Fortsetzung folgt -

(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)

Sonntag, 21. Mai 2017

Eine weitere Geschichte mit dem "Stein des Seins" - Eriachae

Die zweite Geschichte, in welcher der geheimnisvolle Stein eine Rolle spielt, handelt von einem Elbenmädchen namens Erygwen. Ihr Volk verlässt den Wald der Welt, weil die Menschen - besitzergreifend, gierig und dumm - ihn abholzen. Aber sie will ihrer waldenen Heimat treu bleiben, auch wenn das die Trennung von ihrem Liebsten bedeutet. In ihrer Wut auf die Eindringlinge trifft sie eine folgenschwere, aber gerechte Entscheidung, und sie nennt sich fortan Eriachae, die Waldesrächerin...
Hier ein Bild von ihr, von Anke Vos gefertigt:


Quelle: Blog von Anke Vos.

Sonntag, 14. Mai 2017

Prinz Egbert und die Hoffnung

Es heißt, die Hoffnung sterbe zuletzt. Wie lange kann ein Mensch hoffend ausharren? Ein ganzes Leben lang, oder nur eine begrenzte Zeitspanne? Ich habe für die Anthologie "Geschichten von der einsamen Burg" des Alea Libris-Verlages eine Geschichte ersonnen, in der die Fähigkeit zur Hoffnung eine bedeutende Rolle spielt.
Es wäre toll, wenn wohlwollende Leser_innen hier klicken würden ;-)


Samstag, 6. Mai 2017

Der Stein des Seins - Anthologie "Elfentanz und Feenstaub"

Der Stein des Seins spielt in mehreren meiner Geschichten eine Rolle, wobei sein Wesen nicht völlig geklärt ist: Deutlich wird aber, dass dieser Stein ein mächtiges Werkzeug ist, um Dinge zu manipulieren, und dass er als Waffe missbraucht werden kann...

In meiner Geschichte "Der Stein des Seins", die in der Anthologie "Elfentanz und Feenstaub" (Sperling-Verlag) erschienen ist, geht es um zwei unterschiedliche Völker, die sich bekriegen: die Geflügelten und die Feuermenschen. Ein junger Mann namens Aram steht zwischen ihnen und muss sich für eine der beiden Seiten entscheiden...

"Wer jenen Stein sein Eigen nannte, konnte alles tun, hieß es. Ich stellte mir vor, ihn endlich in meinen Händen zu halten. Schon immer hatte ich vom Seinsstein gewusst, schon immer ihn gewollt."


Dienstag, 25. April 2017

Das Feld - "Was haben wir getan?"

Wie wird es sein an dem Tag, an dem wir feststellen, dass wir viel zu weit gegangen sind? Dass wir die Natur um uns herum einmal zu oft manipuliert haben? Dass wir einmal zu wenig Rücksicht genommen haben? Wird es da etwas geben, dass auf Rache sinnt?
Shadodex - der Verlag der Schatten - schrieb eine Textsammlung zum Thema "Was haben wir getan? ...wenn die Natur sich rächt" aus, und meine Kurzgeschichte "Das Feld" wird darin enthalten sein.
Auf FB gibt der Verlag eine Vorschau auf die Anthologie - ich zitiere:

"Es ist an der Zeit, euch die erste Geschichte der im Herbst erscheinenden Anthologie "Was haben wir getan? ... wenn die Natur sich rächt!" vorzustellen.
Wir beginnen mit "Das Feld" von Holger Vos und starten mit einem Auszug und einer kurzen Vorschau:
...
Der Alte lässt den Blick über das Grauen schweifen, und er bedeckt seinen Mund mit der Hand. Heime kommt dazu.
„Was hast du getan?“, fragt der Greis flüsternd.
Sein Sohn legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: „Was nötig war. Und es müsste heißen: Was haben wir getan? Früher hast du den Hubschrauber geflogen, Vater.“
...

Ihr fragt euch nun sicher, was sie getan haben, was der Hubschrauber damit zu tun hat und warum Heime seinen Vater daran erinnern muss?
So viel sei noch verraten: Der alte Mann leidet an einer Demenz. Und wenn ihr die Geschichte einst lesen werdet, werdet ihr sicherlich auch denken: Besser so, dass er nichts mehr weiß, denn er kann so noch eine familiäre Tragödie verdrängen, die mit den Ereignissen und "dem Feld" zu tun hat."

Sonntag, 2. April 2017

Einfach so - Anmerkung und Langfassung

"Einfach so" ist aus der Perspektive des fiktiven Pfarrers Lukas Burgfried verfasst, der in der Zukunft seine Lebenserinnerungen schreibt. In der Episode, von der er berichtet, geht es um eine Unterrichtsstunde zum Thema Luther.
In der Publikation zum Schreibwettbewerb "sola scriptura 2017" ist die zum Text gehörende Literaturangabe leider in den Info-Abschnitt zu meiner Person und Veröffentlichungen gerutscht. Darauf hatte ich im Vorfeld hingewiesen, doch es wurde nicht berücksichtigt. Deshalb ist richtigzustellen, dass die folgende Literaturangabe ein Element des Textes "Einfach so" ist:


[Text-Ausschnitt aus: Abkehr vom Leid. Erinnerungen des Pfarrers Lukas Burgfried. 2001-2061. Neudorf: Wege-Verlag.]
Es gibt eine Langfassung des Textes, die ich hier nun poste:
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Einfach so
Nun komme ich zu einer Episode aus meiner Schulzeit, von der ich immer mehr glaube, dass sie etwas Bedeutsames darüber aussagt, was in der Folgezeit geschah.
Der Lehrer, der bei uns in der siebten Klasse das Fach Werte und Normen unterrichtete, hieß Herr Tilly. Ausgerechnet der Feldherr, der im Dreißigjährigen Krieg für die Katholische Liga kämpfte, war der Namensvetter unseres Lehrers, der mit leuchtenden Augen von Martin Luther erzählte. Der Reformator und sein Wirken waren nämlich das Thema des aktuellen Unterrichtsabschnitts.
Ich kann mich nicht an viele Dinge aus meiner Schulzeit erinnern – schließlich sind seither mehr als fünfzig Jahre vergangen. Es war eine Zeit der Unruhe damals: Alle wollten alles haben. In vielen Bereichen deutete sich aber bereits an, was kommen würde. Was die Welt verändern würde… doch ich schweife ab. Das alles haben wir überwunden, und ich habe an anderer Stelle berichtet, wie ich diese Zeit des Umbruchs erlebt habe.
Immer wieder in den letzten Jahrzehnten habe ich – beruflich und privat – darüber nachgedacht, was Luther uns hinterlassen hat: den wirkmächtigen Stempel, den er der deutschen Sprache aufdrückte, und die Auffassung, jeder solle selbst in der Bibel lesen können, um zu Gott zu finden.
Und eben das, was wir in jener Unterrichtsstunde lernten:
Herr Tilly berichtete, wie Martin, der junge Student der Rechtswissenschaft, fast vom Blitz getroffen wird. Tief bestürzt kommt er zu der Auffassung, dass Gott ihm böse ist, und er verspricht ins Kloster einzutreten, um Gottes Groll auf ihn zu mildern. Hier sieht man Martins festen Charakter, denn obwohl niemand sein Versprechen im Unwetter gehört hat, gedenkt er es einzuhalten, ohne auf Einwände von Freunden und Familie zu achten. So wird er Mönch, mit Anfang zwanzig. Er betet und arbeitet, hält an strengen Regeln fest. Aber die Zweifel bleiben: Reicht es, was ich tue, um Gott zu gefallen? Was, wenn nicht? Was will Gott von mir, was kann ich noch geben? Er liest und liest, fragt und fragt in sich hinein. Schließlich stößt er auf den Römerbrief des Apostels Paulus, der ihm hilft. Er begreift, dass er sich Gottes Liebe nicht verdienen kann, nein, er braucht sie sich nicht zu erarbeiten! Gott schenkt sie den Menschen – einfach so, wenn sie dieses Geschenk annehmen, wenn sie glauben! Diese Entdeckung befreit Martin von seinen Grübeleien, und er beschließt, sie in die Welt zu tragen. Dass dies ein empfindlicher Schlag gegen den lukrativen Ablasshandel der Kirche ist, lässt sich leicht nachvollziehen, und auch, dass es danach zur Kirchenspaltung und zum Dreißigjährigen Krieg kommt. So waren die Menschen.
Wir lasen Texte dazu, und sprachen darüber, Herr Tilly und wir. Wir saßen auf unseren Plätzen, der Lehrer dominierte das Geschehen, und die meisten hörten zu. Weil sie wussten, dass das von ihnen erwartet wurde. Sie mussten. Für eine gute Note. In meinem Fall: für das Leben. Dann wollte Herr Tilly, dass wir das Gelernte in eigenen Worten aufschreiben und dabei insbesondere auf Luthers Entdeckung, die ihn aus dem Dunkel des Zweifels herausführte, eingehen. Alle holten ihre Schreibsachen hervor und begannen zu schreiben. Alle bis auf einen. Mathis, mein Sitznachbar, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und blickte Herrn Tilly freundlich an. Dieser bemerkte Mathis‘ leeren Tisch und seine Arbeitsverweigerung zunächst nicht. Doch dann, vom Lehrbuch auf dem Pult aufblickend, fragte er ungehalten:
„Mathis, was ist das Problem? Warum tust du nichts?“
Der entgegnete lässig:
„Sie haben’s doch gerade selbst gesagt: Wir brauchen uns nicht zu quälen und die ganze Zeit zu arbeiten. Wir sind gut so, wie wir sind. Wir müssen nur glauben.“
Die gesamte Klasse hatte zwischenzeitlich aufgehört zu schreiben und blickte nun gespannt zwischen ihrem Mitschüler und Herrn Tilly hin und her. Denn allen war klar, manchmal konnte ihr Lehrer durchaus das Verhalten eines Feldherrn an den Tag legen, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen lief. Mit routinierten, zackigen Bewegungen stand er auf und baute sich im Raum auf, dabei schaute er die ganze Zeit Mathis an. Es war still. Herr Tilly hatte die Stirn in Falten gelegt, Mathis erwiderte den Blick des Lehrers tapfer, doch ich sah von der Seite, dass er nervös wurde, weil er blinzelte. Er fragte sich wohl, ob er nicht zu weit gegangen war. Herr Tilly schritt zu Mathis‘ Tisch und stützte sich mit beiden Händen darauf ab. Der Widerstand brach: Mathis machte Anstalten, seine Schreibsachen hervorzuholen und wie alle anderen zu beginnen. Dann legte ich meinen Stift zur Seite und schloss mein Heft; Mathis hielt inne. Er brauchte Verstärkung. Einige andere taten es mir gleich. Bis die ganze Klasse zurückgelehnt dasaß und Herrn Tilly erwartungsvoll und etwas furchtsam ansah. Herr Tilly lachte, dann seufzte er.
„Was sagt man dazu? Ihr habt Luthers Idee wohl verstanden, aber einen falschen Schluss gezogen.“
Er ging zu seinem Pult zurück und setzte sich. Dann nahm er sich die Zeit und blickte jede Schülerin und jeden Schüler genau an. Dann versuchte Herr Tilly uns davon zu überzeugen, dass es nun unsere Aufgabe wäre, die Stunde mit ihm fortzusetzen, und dass es einen Unterschied zwischen dem, was Gott will, und dem, was die Gesellschaft fordert, gäbe. Irgendwann schrieben wir unsere Texte zu Ende, doch ich weiß, dass in mir – und sicher auch in anderen – ein leiser, aber nicht zu überhörender Zweifel blieb. In den Tagen nach dieser Unterrichtsstunde dachte ich darüber nach, was ich Herrn Tilly hätte antworten können:
Ist es denn richtig, dass es zwischen dem Willen Gottes und den Forderungen der Gesellschaft einen Unterschied gibt? Müssen wir denn immer nur noch mehr leisten, arbeiten, haben? Wohin führt das? Was hat das mit Glauben zu tun – und ist Glaube denn eigentlich nichts anderes als die Überzeugung, in ein letztlich liebendes Ganzes eingebettet zu sein? Was ist, wenn wir dieses Ganze durch unser Tun, das die Gesellschaft – nicht Gott – fordert, zerstören? Ist es dann nicht vernünftig, damit aufzuhören und uns zu fragen, was wirklich wichtig für uns Menschen ist? Nämlich andere Menschen, Heimat, Anerkennung, Wärme…
So hätte ich es wahrscheinlich damals als Schüler nicht formuliert; diese Worte entstanden aus der Rückschau auf diese Zeit. Aber das ist es, was mich beschäftigte, was ich spürte: Ein Zweifel am selbstverständlichen Mehr, das alle anzustreben hatten.
Aber nur wenige Jahre später folgte die bittere Erkenntnis, dass wir in eine Sackgasse geraten waren. Nur der Glaube an ein liebendes Ganzes war im Stande, uns umkehren zu lassen. Ich habe nie erfahren, ob es Herrn Tilly auch gelang, mit uns zu kommen. Ich wünsche es ihm; so viele schafften es nicht.
(Text-Ausschnitt aus: Abkehr vom Leid. Erinnerungen des Pfarrers Lukas Burgfried. 2001-2061. Neudorf: Wege-Verlag.)

(c) HV

Einfach so - sola scriptura

Vor 500 Jahren stellte Martin Luther seine Gedanken zum kirchlichen Ablasshandel der Öffentlichkeit vor, damit sie "disputiert" werden sollten. Dazu soll er selbst - oder ein Gehilfe - die berühmten 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg geschlagen haben. Jene Tür fungierte damals als das Schwarze Brett der Universität.
"sola gratia", Latein für "allein durch Gnade", ist der Kerngedanke des reformatorischen Denkens, und "sola scriptura" ist ein weiterer bedeutsamer Ansatz Luthers, nämlich der Gedanke, dass allein die Bibel ausreicht, um die christliche Heilsbotschaft zu erkennen - die Kirche braucht nicht zu vermitteln.
Was hat das mit dem Schreiben, meinem Schreiben, zu tun?
"sola scriptura" hieß auch ein Schreibwettbewerb anlässlich des Lutherjahres 2017, der vom Ev. Kirchenkreis Wittenberg initiiert wurde. Dabei ging es um die Frage, ob bzw. inwieweit Luthers Leistung eine Provokation für die heutige Leistungsgesellschaft darstelle.
Diese Frage brachte auch mich zum Nachdenken, und irgendwann stellte ich mir einen Pfarrer vor, der in den 60ern des 21. Jahrhunderts seine Memoiren schreibt und sich an eine Unterrichtsstunde über Luther erinnert...
Zahlreiche Texte - von jung und älter - wurden eingereicht, und am vergangenen Samstag fand die Preisverleihung nebst Präsentation der Anthologie "LEISTUNGsfrust? LUTHER_sucht... Gnade! - sola scriptura 2017. Lyrik und Prosa im Schreibwettbewerb zum Reformationsjubiläum" im schönen Wittenberg statt.

Die zwei höchsten Auszeichnungen gingen an Beiträge, die trotz (oder gerade wegen) einer kritischeren Sicht auf Luther die meisten Stimmen der Jury auf sich vereinten. Es ist ja nicht "wegzudisputieren", dass Luther antisemitische Ansichten vertrat, und auch nicht, dass der inflationäre Verkauf von Luther-Souvenirs (z. B. Playmobil-Luther, Luther-Wein, Luther-Nudeln, "Luther To Go", "Luther zum Vergnügen" etc.) gerade im Jubiläumsjahr stark an den damals von Luther daselbst kritisierten Ablasshandel erinnert...
Wie dem auch sei. Es hat Freude gemacht, sich dazu schreibend Gedanken zu machen, und es ist schön, in der Publikation zum Wettbewerb mit "Einfach so" vertreten zu sein. Dazu gibt es im nächsten Post noch etwas zu bemerken.

Sonntag, 26. März 2017

Bei den Eisriesen - Anthologie "Wintermärchen"

Es war einmal eine wunderschöne, junge Prinzessin, die bald in das Alter kommen würde, in dem sie heiraten sollte. Zahlreiche stattliche Prinzen hatten der Königsfamilie bereits ihre Aufwartung gemacht, der Prinzessin kostbare Geschenke gebracht und Komplimente ausgesprochen. Aber die Prinzessin freute sich nicht, im Gegenteil: Ihre Miene wurde von Tag zu Tag ernster, dann lachte sie nicht mehr wie früher, und schließlich schloss sie sich in ihr Gemach ein und weinte bitterlich. Ihre Mutter, die Königin, zeigte Geduld und Verständnis, und die Prinzessin ließ sie ein.
„Was bedrückt dich so, mein Kind?“, fragte die Königin.
„Ach, Mutter, wenn ich daran denke, dass ich einen von diesen Jünglingen heiraten und ihn zu seiner Burg begleiten soll, dann will ich am liebsten sterben!“
„Sag‘ so etwas nicht, Liebes, bitte“, sprach da die Königin, streichelte das glänzende Haar ihrer Tochter und strich ihre Tränen fort. Dann erzählte sie ihr eine Geschichte, die der jungen Prinzessin hilft, ihre Traurigkeit zu überwinden.

Diese Geschichte, ein Märchen mit dem Titel "Von den Eisriesen", handelt von der mutigen Prinzessin Rea, die vom Vater den Eisriesen versprochen wird, um das Volk vor dem todbringenden Winter zu retten. Es ist in der Anthologie "Wintermärchen" (Sperling-Verlag) erschienen, neben zahlreichen weiteren schönen Märchen.

Montag, 20. März 2017

Gardinen - Anthologie "Fenster, Rahmen"

Eine meiner Geschichten ist in einer kürzlich erschienenen Anthologie des Ruhrliteratur-Verlages enthalten. "Gardinen" erzählt von einem jungen Vater, dessen Freund von einer Nazi-Gang fast getötet wurde. Das wirft beide aus der Bahn...


Hier der Link zum Buch: Fenster, Rahmen.


Sonntag, 12. März 2017

Kostas und Ioanna - alternativer Anfang

Die Geschichte von Kostas und Ioanna, wie sie bei Alea Libris zu finden ist, musste gekürzt werden. Eigentlich beginnt die Geschichte mit einer Begegnung zwischen Ioanna und ihrem Vater, der sie und ihre Mutter verließ, als sie ein Baby war:
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Es war kalt und es regnete. Ein älterer Mann hetzte über die Straße unter ein einladendes Vordach. Er hielt kurz inne, spürte, wie sein Herz sich überschlug, atmete einmal tief ein und wieder aus. Entschlossen betrat er ein Restaurant. Es war zehn nach acht. Die Empfangsdame kam auf ihn zu, wünschte ihm einen guten Abend und fragte, ob er reserviert hätte.
„Guten Abend, ja, auf den Namen Papadakis, Nikolaos Papadakis. Ist die junge Dame schon da? Ich habe mich etwas verspätet.“
Die Empfangsdame blätterte in ihrem Buch und sagte:
„Ah ja, hier, Papadakis, ein Tisch für zwei Personen, 20 Uhr. Die Dame hat bereits einen Wein gewählt.“
Nikolaos wurde zu seinem Tisch geführt. Sie saß mit dem Rücken zu ihm und stellte ihr Glas gerade ab. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr, sah sich kurz um. Ihr Blick blieb an ihm hängen, der jetzt an dem gemeinsamen Tisch stand. Er lächelte und stammelte:
„Hallo, Ioanna... bitte – entschuldige... die Verspätung.“
Ioanna nickte kurz, wies mit der Hand zum freien Platz gegenüber und antwortete:
„Was machen die zehn Minuten nach so vielen Jahren schon noch aus, Vater.“
Nikolaos nahm Platz und betrachtete seine Tochter, während er nichts zu erwidern wagte und die Lippen zusammenpresste. Eine höchst unangenehme Situation, die ihm, dem erfolgreichen Investmentbanker, gänzlich unbekannt war. Doch er musste sie wohl durchstehen, wenn er sein großes Versäumnis wenigstens etwas wieder gut machen wollte. Nach der Diagnose hatte der Arzt gefragt, ob er Familie hätte, die ihn in seinen letzten Monaten (mit Glück: seinem letzten Jahr) begleiten würde. Da hatte Nikolaos gestutzt und mit schlechtem Gewissen nach langer Zeit wieder an Ioanna und ihre Mutter gedacht. Und als er erfahren hatte, dass diese tot war, hatte er seine Tochter gefunden und um ein Treffen gebeten. Hier waren sie nun, und er konnte Ioannas Blick nicht deuten. Sie sah ihn einfach an; ob Freude oder Wut sie beherrschte, konnte er nicht sagen. Ihre Äußerung ließ ihn jedoch nichts Positives hoffen. Diese Dreißigjährige, die dort saß, war seine Tochter! Einmal hatte er sie auf dem Arm getragen, bevor er gegangen war. So viel Zeit war vergangen. Sie hatte langes schwarzes Haar, das sie offen auf ihre schmalen Schultern fallen ließ. Dazu trug sie ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Nikolaos lächelte nervös und sagte:
„Ich danke dir, dass du gekommen bist.“ Dabei näherten sich seine Finger ihrer Hand, die auf dem Tisch lag.
„Und ich frage mich, was du nach all den Jahren von mir willst“, entgegnete sie kühl und nahm ihre Hand weg. Nikolaos begriff, dass sie wohl nicht an einem langen Vater-Tochter-Kennlerngespräch interessiert war, und beschloss, es ihr sofort zu sagen.
„Ich... bin krank, sehr krank. Krebs im Endstadium. Ich dachte, wenn –“
„Was dachtest du!?“, erhob Ioanna plötzlich ihre Stimme und beugte sich zu ihm vor. „Dass, wenn du mir sagst, dass du bald stirbst, ich dich in den Arm nehme und beschließe, bei dir zu sein, wenn du abkratzt?“
Ioanna lehnte sich zurück und betrachtete genüsslich den entsetzten Blick ihres Vaters. Sie nahm ihren Wein und trank, während ihr Gegenüber innerhalb von Sekunden alterte. Doch er begann nochmal:
„Ich bereue, was ich getan habe, glaub mir. Doch ich hatte Gründe, die mir damals richtig erschienen.“
„Hm“, machte sie, „das interessiert mich einen Scheiß. Ich kenne dich nur von ein paar Fotos, und wenn Mama was von dir erzählt hat, dann war das selten gut. Ich brauche keinen Vater, ich will keinen Vater, und du bist ein Fremder für mich, kapiert? Ich wollte, dass du das weißt.“
Mit diesen Worten, dieser Abrechnung, ließ Ioanna ihren Vater sitzen und verließ das Restaurant. Nikolaos Papadakis blieb noch eine Stunde sitzen und starrte abwechselnd in die Kerzenflamme und auf die Flasche Wein, den Ioanna getrunken hatte. Ein teurer – wenigstens hatte er ihr ein einziges Mal etwas Gutes getan.
„Nun lass den Kopf mal nicht hängen, mein Lieber“, hörte er irgendwann hinter sich eine Frauenstimme, die frisch und unbekümmert klang. „Wie sagt man doch: Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster!“
Nikolaos wandte den Kopf und blickte in ein lächelndes Gesicht, umrahmt von strohblonden Zöpfen. Die Augen der Frau waren hellgrün und blaugesprenkelt. Er zwinkerte ein paarmal seine Tränen weg und bat sie zu sich an den Tisch, da sie ebenfalls alleine war.
„Weißt du“, begann sie, „ich habe heute schon so viel geredet, mein Mund ist ganz trocken.“
„Ach, selbstverständlich“, sagte Nikolaos und orderte ein neues Glas für seine neue Bekanntschaft. Dann stellte er sich vor.
„Ich weiß, Nikolaos. Und gerade ist Ioanna abgerauscht, deine Tochter, die du nach dreißig Jahren kennen gelernt hast. Alle Achtung“, entgegnete die Frau und sprach eilig weiter, „ach ja, und ich heiße Ate.“
„Woher weißt du das alles?“ fragte er.
„Das ist doch nicht wichtig“, gab Ate zurück, „viel wichtiger ist, wie du dieses Dilemma ein wenig besser machen kannst. Oder?“
Nikolaos schwieg. Was konnte er denn noch tun? Seine Tochter hatte ihm unmissverständlich klargemacht, was sie von ihm hielt und dass sie ihn nicht brauchte.
„Ja, natürlich, aber ich kann nichts tun.“
„Wirklich? Hast du nicht mit Geld zu tun? Mit viel, viel Geld?“, zwinkerte sie.
In Nikolaos reifte eine Idee heran, während Ate bei ihm saß, den Wein austrank und ab und zu seinen Gedanken ein weiterführendes Stichwort gab. Er würde ein paar Geschäfte machen, er würde ein kleines Vermögen anhäufen und seiner Tochter vermachen, ohne dass sie es zu ihm zurückverfolgen könnte. Eilig verließ er das Restaurant, murmelte Ate ein „Danke!“ zu und zog sein Telefon aus dem Jackett. Es gab viel zu tun in den nächsten Wochen, und er musste sich beeilen, bevor es zu spät für ihn war.
Ioanna ging mit schnellen Schritten die Straße entlang.

(c) HV
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Hier setzt dann die Alea-Libris-Version der Geschichte ein...

Rückblick: "Chaos in der Unterwelt"

Die szenische Lesung „Chaos in der Unterwelt“ hat sowohl den Zuhörenden als auch den Lesenden viel Spaß gemacht! Kostümwechsel, Einsatz von ...