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Entscheidung - Hineinrufgeschichten I

Das Leben ist eine Baustelle, dachte ich bei mir, als ich kopfüber an einem hohen Baum hing. Ich hatte einen Spaziergang unternommen, hier auf dieser Insel, die ich gestern unfreiwillig betreten hatte. Nun hing ich da, an einem Seil, den Fuß in der Schlinge. Eigentlich hatte ich auf die Party am anderen Ende der Insel gehen wollen, aber nun war ich damit beschäftigt, mich zu wundern, wie ich in diese Situation hineingeraten war und wie ich mich wieder befreien konnte. Ich kannte hier eigentlich niemanden und ich wollte auch niemanden kennen. Aber vielleicht hätte sich das auf dieser Party geändert? In dieser doofen Situation beschloss ich, dass das Leben etwas ist, das passiert, wenn man andere Pläne macht.“
„So ein Quatsch!“, erwiderte sie, „du hättest mir doch von Anfang an sagen können, was los ist!“
Sie gingen die Straße entlang; sie, wild gestikulierend, wie es ihre Art war, und er, verträumt die Bauarbeiterdekolletés betrachtend, obwohl er doch Frauen mochte.
Plötzlich stand Frau Weber vor ihm, seine alte Lehrerin! Hier zeigte sich wieder, wie unvollkommen das Leben war.
„Ich kann das bezeugen“, sagte sie, während ein behindertengerechter Bus an ihnen vorbei fuhr. Er konnte viele Einzelheiten wahrnehmen, die um ihn herum waren, weil ihn die Frauen neben ihm nicht interessierten. Doch – Frau Weber schon.
„Was könnten Sie denn bezeugen?“, fragte sie argwöhnisch. Sie war mal sexy gewesen, dachte er.
„Ich kann bezeugen, dass du auf dieser Insel warst. Wie hast du dich nur befreien können?“, fragte Frau Weber.
„Ich – kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich an diesem Baum hing, und eigentlich wollte ich auf diese Party gehen. Das habe ich ihr schon erzählt, aber sie glaubt mir nicht.“
„Du warst auch auf dieser Party, ja, das warst du“, wisperte Frau Weber, und sie lächelte aus roten Augen und – verwandelte sich. Ihre Haare fielen in Büscheln aus, sie ergraute und zerfiel, und der Staub verwehte aufgrund eines plötzlichen Windes, wie der von einem vorbei rasenden Zug.
Und dann hörte er ein fernes Gelächter, das von unten kam, aus dem Boden, so schien es, und er sah sie, Samantha, wie sie ihn aus toten Augen anstarrte, mit leerem Blick.
Dann stand er allein. Ein schwarzer Vogel flog an einem blauen, strahlenden Himmel, der jedoch unter seinen Füßen lag! Es roch nach Bananen und frischem Wasser, das überdies plätscherte. Über sich sah er den Urwald. Noch immer hing er am Baum, und die Zeit war nicht vergangen. Wahrscheinlich war ihm zuviel Blut ins Hirn geschossen.
Frau Weber hatte ihm schon damals in der Schulzeit bei seinen Entscheidungen geholfen. Und nun, hier auf dieser Insel am Baum, beschloss er, Samantha nicht wieder zu sehen. Es wurde Zeit, das Ruder wegzuwerfen. Einzig Mikrowellen würde er vermissen.

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...eine "Hineinrufgeschichte" aus dem Jahre 2009, entstanden im Rahmen einer Unterrichtsstunde zum kreativen Schreiben.

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