„Das Leben ist eine Baustelle, dachte ich bei mir, als ich
kopfüber an einem hohen Baum hing. Ich hatte einen Spaziergang unternommen,
hier auf dieser Insel, die ich gestern unfreiwillig betreten hatte. Nun hing
ich da, an einem Seil, den Fuß in der Schlinge. Eigentlich hatte ich auf die
Party am anderen Ende der Insel gehen wollen, aber nun war ich damit
beschäftigt, mich zu wundern, wie ich in diese Situation hineingeraten war und
wie ich mich wieder befreien konnte. Ich kannte hier eigentlich niemanden und
ich wollte auch niemanden kennen. Aber vielleicht hätte sich das auf dieser
Party geändert? In dieser doofen Situation beschloss ich, dass das Leben etwas
ist, das passiert, wenn man andere Pläne macht.“
„So ein Quatsch!“, erwiderte sie, „du hättest mir doch von
Anfang an sagen können, was los ist!“
Sie gingen die Straße entlang; sie, wild gestikulierend, wie
es ihre Art war, und er, verträumt die Bauarbeiterdekolletés betrachtend,
obwohl er doch Frauen mochte.
Plötzlich stand Frau Weber vor ihm, seine alte Lehrerin!
Hier zeigte sich wieder, wie unvollkommen das Leben war.
„Ich kann das bezeugen“, sagte sie, während ein
behindertengerechter Bus an ihnen vorbei fuhr. Er konnte viele Einzelheiten
wahrnehmen, die um ihn herum waren, weil ihn die Frauen neben ihm nicht
interessierten. Doch – Frau Weber schon.
„Was könnten Sie denn bezeugen?“, fragte sie argwöhnisch.
Sie war mal sexy gewesen, dachte er.
„Ich kann bezeugen, dass du auf dieser Insel warst. Wie hast
du dich nur befreien können?“, fragte Frau Weber.
„Ich – kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich an
diesem Baum hing, und eigentlich wollte ich auf diese Party gehen. Das habe ich
ihr schon erzählt, aber sie glaubt mir nicht.“
„Du warst auch auf dieser Party, ja, das warst du“, wisperte
Frau Weber, und sie lächelte aus roten Augen und – verwandelte sich. Ihre Haare
fielen in Büscheln aus, sie ergraute und zerfiel, und der Staub verwehte
aufgrund eines plötzlichen Windes, wie der von einem vorbei rasenden Zug.
Und dann hörte er ein fernes Gelächter, das von unten kam, aus
dem Boden, so schien es, und er sah sie, Samantha, wie sie ihn aus toten Augen
anstarrte, mit leerem Blick.
Dann stand er allein. Ein schwarzer Vogel flog an einem
blauen, strahlenden Himmel, der jedoch unter seinen Füßen lag! Es roch nach
Bananen und frischem Wasser, das überdies plätscherte. Über sich sah er den
Urwald. Noch immer hing er am Baum, und die Zeit war nicht vergangen.
Wahrscheinlich war ihm zuviel Blut ins Hirn geschossen.
Frau Weber hatte ihm schon damals in der Schulzeit bei
seinen Entscheidungen geholfen. Und nun, hier auf dieser Insel am Baum,
beschloss er, Samantha nicht wieder zu sehen. Es wurde Zeit, das Ruder
wegzuwerfen. Einzig Mikrowellen würde er vermissen.
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...eine "Hineinrufgeschichte" aus dem Jahre 2009, entstanden im Rahmen einer Unterrichtsstunde zum kreativen Schreiben.
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