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#Autor*innenImAdvent - "Ypern 1914"

Die folgende Geschichte erzählt Dr. Joseph Darkwoods Erlebnisse im Krieg, genauer an Weihnachten 1914 in Ypern. Darkwood ist einer der Hauptprotagonisten aus TEUFELSAUGE.


Ypern, 1914

Einen Tag und eine Nacht lang schon schweigen die Waffen. Überall in dem weit verzweigten Netz aus Schützengräben sitzen oder stehen die Soldaten in Gruppen zusammen, reden, rauchen, blicken in einen grauen Himmel, der sich über zerstörter Erde erstreckt. Joseph Darkwood sitzt in einem Unterstand. Er schreibt konzentriert, reiht sorgfältig Zeile unter Zeile auf ein auseinandergefaltetes Blatt Papier. Wie viele andere junge Männer auch, ist er siegesgewiss und mit der Überzeugung, dem Vereinigten Königreich damit dienen zu können, in diesen Krieg gezogen. Nun liegen sie, die Soldaten der British Expeditionary Force, in Flandern, nahe der Stadt Ypern, an der Front.

Schnell haben sie begriffen, dass die Hölle wahrhaftig existiert. Sie ist nichts Metaphysisches, kein jenseitiger Ort der Bestrafung für die Sünder und Ungläubigen, sondern das von Menschen geschaffene, wahnwitzige Grauen. Nichts hier ist ehrenhaft. Entweder man krepiert oder man überlebt noch eine Weile. Nichts ist gewiss. Die Tage sind ausgefüllt mit Angst, tosendem Lärm, Blut und Tod. Wie Maulwürfe haben sie sich in die Erde gegraben, Stacheldrahtverhaue angelegt, den Feind verflucht. Dessen Gräben liegen manchmal so dicht an den eigenen, dass man ihn sprechen hört.

Neben Darkwood zieht Stanley Timberfull an seiner Zigarette, die er von einem Deutschen bekommen hat, und blickt gedankenverloren über den Rand des Grabens hinweg, dorthin, wo es sicher ist. Er betrachtet den Kameraden, wie er seinen Brief schreibt, und lächelt.

„Seit gestern können wir wieder hoffen, dass es bald vorbei ist, oder?“

Darkwood nickt, hält dann inne und sieht den anderen an.

„Es muss bald aufhören. Die Jerrys haben das Abschlachten auch satt.“

Ein Soldat setzt sich zu ihnen. Sein Gesicht ist fahl und bestürzt, die Stirn liegt in Falten. Timberfull fragt ihn, was los sei, doch er antwortet nicht. Seine Arme sind blutig. Ohne die beiden anderen zu beachten, schreibt Darkwood eilig weiter und hat bald seinen Brief beendet. Er faltet das Papier zusammen und steckt es in seine Brusttasche.

„Ypern/Flandern, am Weihnachtsmorgen 1914. Ihr Lieben, ich wünsche euch ein friedliches, warmes Fest! Ich hoffe, dass ihr es genießen könnt. Und dass ihr an mich denkt. Während ich diese Zeilen schreibe, kehrt langsam mein Glaube an die Menschheit zurück. Der Mensch mag ein Tier sein, aber kein gänzlich verdorbenes, wie es scheint. Denn gestern hat sich etwas Wunderbares ereignet. Ich will euch davon berichten.

Wir standen und rannten in den Gräben, schossen, hörten die Schrapnelle über uns hinwegfliegen. Doch mit einem Male wurde es anders; ich brauchte etwas Zeit um zu begreifen, dass der Kriegslärm aufgehört hatte. Ein deutscher Soldat – wir nennen sie Jerrys – kam unbewaffnet aus dem Graben und ging auf uns zu. Er hielt eine Flasche mit Schnaps hoch und wünschte uns ‚Frohe Weihnachten‘! Einige von uns erwiderten den Gruß: ‚Merry Christmas, Jerry!‘ Bald tranken wir von ihrem Schnaps, sie von unserem Rum, und wir sangen Weihnachtslieder. Wir tauschten Geschenke aus, Zigaretten gingen um. Die Deutschen stellten unzählige Kerzen auf ihren Gräben auf, was sehr schon aussah. Wir zeigten uns gegenseitig Fotos von unseren Familien. Es wurde viel gelacht. Der Feind hatte ein menschliches Gesicht bekommen. Er wollte genauso gern lieber Zuhause sein als hier. Ich habe die Hoffnung, dass dieser irrsinnige Krieg schnell endet. Wer kann nun noch auf einen Mann schießen, der dessen Frau und Kinder gesehen hat? Wünscht uns Glück! Wenn ich nicht zu Unrecht hoffe, dann sehen wir uns bald wieder! Alles Liebe und Gute für euch! Joseph.“

Jetzt wendet sich Darkwood an den Kameraden:

„Was ist passiert, Derek?“

Als erwache er, blinzelt Derek Blankfeather ein paarmal und sieht dann Darkwood an.

„Ich will hier nicht sterben“, sagt er. „Etwas lauert hier, etwas Böses.“

Blankfeather sieht wieder in die Leere vor sich. Er scheint aber etwas zu sehen, das ihn zutiefst bestürzt. Etwas, das schlimmer ist als das alltägliche Gemetzel.

„Er … hat es am Ende doch nicht geschafft. Die Blutungen hatten aufgehört, und er konnte sprechen. Immer wieder hat er gesagt, dass ER hier sei, dass es kein Entkommen gebe, dass dies die Hölle sei. Er sprach mit weitem Blick vom bösen Tod, der sich hier von unseren Seelen nähren würde. Und als es dann zu Ende ging mit ihm, flüsterte er immer wieder ein Wort, das ich noch nie gehört habe…“

„Wahrscheinlich hatte er zu starke innere Verletzungen. Und kurz vor dem Tod ist es normal, dass man fantasiert“, erklärt Darkwood.

„Nein, bei ihm war es anders“, entgegnet der Soldat und sieht zuerst Darkwood, dann Timberfull, mit angstgeweitetem Blick an. „Ihr hättet sein Gesicht sehen müssen.“

„Was für ein Wort hat er denn immer wieder gesagt?“, fragt Timberfull.

„Marog, immer wieder sagte er Marog.“

„Nie gehört.“

„Seit gestern bin ich mir sicher, Derek“, sagt Darkwood und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter, „dass wir hier rauskommen und bald wieder nach Hause gehen können.“

Blankfeather erwidert nichts.

Einige Tage später – dem gemeinsamen Singen, Trinken und Beschenken zum Trotz ist das Abschlachten weitergegangen – erkennt Darkwood, dass seine Hoffnung unberechtigt, dass sein Vertrauen in die Menschheit haltlos war.

(c) HV (10/2020)

Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Vos,

    ich lese hier seit einiger Zeit still mit. Ihr Buch "Die Weltdeutung im Silmarillion..." habe ich aufmerksam gelesen und befasse mich selbst intensiv mit Tolkiens Gesamtwerk seit nunmehr 10 Jahren. Ihr Artikel erscheint mir im Lichte von J.R.R.Tolkien, der selbst an der Schlacht an der Somme teilnahm...
    und dessen mystischer Ort "Needlehole" möglicherweise die Westfront im Westviertel des Gallo-burgundischen "Auenland" bezeichnet...
    Sollten Sie Interesse an einem Austausch über Tolkiens tiefgründige Aussagen haben können Sie mir gern antworten.
    Beste Grüße Rico Kiel
    uhlig.rico(at)t-online.de

    PS: ich besitze kein Smartphon.

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  2. Sehr geehrter Herr Vos,

    ich lese hier seit einiger Zeit still mit. Ihr Buch "Die Weltdeutung im Silmarillion..." habe ich aufmerksam gelesen und befasse mich selbst intensiv mit Tolkiens Gesamtwerk seit nunmehr 10 Jahren. Ihr Artikel erscheint mir im Lichte von J.R.R.Tolkien, der selbst an der Schlacht an der Somme teilnahm...
    und dessen mystischer Ort "Needlehole" möglicherweise die Westfront im Westviertel des Gallo-burgundischen "Auenland" bezeichnet...
    Sollten Sie Interesse an einem Austausch über Tolkiens tiefgründige Aussagen haben können Sie mir gern antworten.
    Beste Grüße Rico Kiel
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