Rezension zu „Du
hättest gehen sollen“ von D. Kehlmann
Ich las die Erzählung am 16. und 17. Januar 2017.
Zum Inhalt:
In Daniel Kehlmanns (gleich vorweg: in doppeltem Wortsinn)
phantastischer Erzählung „Du hättest gehen sollen“ geht es um einen
Drehbuchautoren, der mit seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter einige
Tage in einem einsam gelegenen Ferienhaus in den Bergen verbringt. Nach und
nach passieren merkwürdige Dinge im Haus, welche seine bisherigen Erfahrungen
über die Welt in Frage stellen, und am Ende hat ihn der unheimliche Sog des
Hauses gefangen genommen.
Der Ich-Erzähler steht unter Zeitdruck, da er das Drehbuch
für den zweiten Teil seiner erfolgreichen Komödie abliefern soll. Zudem gibt es
immer wieder Streit mit seiner Frau Susanna, die häufig mit ihrem Telefon
Nachrichten schreibt. Die gemeinsame Tochter Esther fordert die Aufmerksamkeit
des Vaters ein, der häufig abwesend und gereizt reagiert. Mit der Zeit beginnen
dem Drehbuchautor eigenartige Dinge aufzufallen: So zweifelt er an seiner
Wahrnehmung, als er plötzlich sein Spiegelbild abends im Fenster nicht mehr
sieht, das Notizbuch und den Schreibtisch jedoch schon. Einmal fährt er
hinunter ins Dorf, um einzukaufen. Der wortkarge, Dialekt sprechende Verkäufer,
den er nicht durchgängig versteht, fragt ihn, ob bereits etwas im Haus passiert
sei; auf die Frage, was er damit meine, schweigt er. Eine weitere Kundin sagt
ihm, er solle das Ferienhaus verlassen. Doch die Familie bleibt.
Der Ich-Erzähler schreibt neben Ideen für sein Drehbuch
zunehmend Beobachtungen zum merkwürdigen Geschehen im Haus sowie zur
belastenden Familiensituation auf. Auch liest er nach, was er bisher
geschrieben hat, und er findet Worte, die er nicht geschrieben hat und ihn
nachdrücklich auffordern wegzugehen.
Weil er den Vermieter des Hauses anrufen will und sich die
Telefonnummer im Handy seiner Frau befindet, greift er zu ihrem Telefon und
stößt auf Nachrichten seiner Frau, die darauf hinweisen, dass sie ein
Verhältnis mit einem Mann namens Daniel hat. Er spricht sie darauf an, das
Ehepaar streitet sich, der Streit eskaliert und Susanna fährt mit dem
gemeinsamen Wagen davon, während die Tochter schläft. Nun spitzt sich die
Situation im Haus zu: Bilder tauchen auf und verschwinden wieder, er sieht
schemenhafte Silhouetten vor dem Fenster, sieht per Kamera des Babyfons
Menschen im Raum, wo Esther schläft, er hört Geräusche und Schreie. Er holt
seine Tochter zu sich ins Wohnzimmer und schließt sich mit ihr ein.
Abends versucht er mit Esther hinunter ins Tal zu flüchten.
Sie gehen stundenlang und kommen schließlich zu einem Haus, welches sich als
das herausstellt, das sie hatten verlassen wollen.
Weitere Wahrnehmungen, die er sich nicht erklären kann,
schließen sich an, und der Ich-Erzähler sinnt über das Universum nach und
Überlegungen von Astronomen, die davon ausgehen, dass es zahllose Universen
geben könne, die alle ihre eigenen Gesetze haben und voneinander getrennt
existieren. Manchmal, überlegt er, könne es Schwachstellen und Übergänge geben,
wobei das Haus ein solcher Übergang sein könne. All das bleibt Spekulation.
Susanna kommt wieder hergefahren. Sie will einen Neuanfang
und beteuert, dass der andere Mann ihr nichts bedeute. Er jedoch verfolgt nur noch
das Ziel, Ester vom Haus wegzubringen; er selbst, so ahnt er, ist bereits zu
stark vom Sog des Hauses eingenommen, dass er bleiben muss. Er setzt seine
Tochter ins Auto und drängt seine Frau, wegzufahren. In seinen Notizen gibt es
den Hinweis, dass sie es geschafft haben. Das Notizbuch, und ebenso die
Erzählung, enden mit einem unvollständigen Satz, der darauf hinweist, dass der
Ich-Erzähler nun endgültig aus der Welt entrückt und im Haus, wie all die
anderen Menschen, die er zunehmend gesehen hat, gefangen ist.
Bewertung:
Daniel Kehlmann gelingt es mit dieser kurzen Erzählung (etwa
90 Seiten), eine spannungsvolle, beklemmende Atmosphäre zu schaffen, wofür
andere Autoren Hunderte von Seiten benötigen. Das Ineinandergreifen von
familiären Zwistigkeiten, beruflichem Stress und der phantastischen Komponente
gelingt absolut überzeugend. Ebenso passen Inhalt und sprachliche Form perfekt
zusammen: Der Leser hat gleichsam das Notizbuch des Drehbuchautors in Händen
und vollzieht die Geschehnisse aus dessen Perspektive nach. Nicht vollendete
Sätze und vage Andeutungen erzeugen eine Ratlosigkeit, die der Ich-Erzähler
fühlt. Nicht zuletzt handelt die Erzählung vom Scheitern des Konzepts Familie,
von der zwischenmenschlichen Entfremdung bzw. Isolation und dem Einfluss einer
zunehmend menschenfeindlichen Umwelt diesbezüglich. Ich musste beim Lesen mehrfach
an Marlen Haushofers „Die Wand“ denken.
Eine klare Lese-Empfehlung für „Du hättest gehen sollen“!
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