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Denken und Reden - Reden und Denken

Ich habe mal wieder, wie ich es ab und zu gern tue, in alten Texten von mir gewühlt. Es ist interessant, wie wenig vertraut mancher Gedanke, manche Formulierung, daherkommt, und wie fremd ein solcher alter Text erscheint. Im Studium habe ich mich mit dem Dichter Heinrich von Kleist (1777-1811) und seinem Aufsatz "Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden" befasst. Darin skizziert er ein alternatives Kommunikationsmodell; er stellt heraus, dass die Rede nicht immer die bereits abgeschlossenen, "geronnenen", Gedanken befördert, sondern dem Denken zum Fortschreiten verhilft.
Was Kleist für das gesprochene Wort aussagt, nämlich dass es die "Verfertigung der Gedanken" unterstützt, gilt meines Erachtens ebenso für das Schreiben. Als Autor erlebt man es hin und wieder, dass die Geschichte "sich verselbstständigt" bzw. sich von selbst schreibt... das sind die guten Momente :-)

Hier eine Darstellung von Kleists Ansatz:

[...]

2. Denken beim Reden – Reden vor dem Denken
Kleist erlebte die Welt und das Leben als Katastrophe. Zeit seines Lebens erfuhr er Bedrohungen und Rückschläge: die napoleonische Besatzungsmacht, der Zusammenbruch des preußischen Reiches und die mangelnde Anerkennung seines schriftstellerischen Könnens seitens seiner Dichterkollegen. Die Beschäftigung mit Kants (oder Fichtes?)[1] Philosophie bewog ihn, zu denken, dass der Mensch niemals vollständige Erkenntnis über die Welt erlangen könne und er somit einer nicht berechenbaren Welt ausgeliefert sei. Zentrales Thema seiner Werke ist eben diese Unsicherheit des Menschen in einer „gebrechlichen“ Welt.[2] Ein anderes Thema, jedoch mit dem zentralen Thema verknüpft, ist die Suche nach einem unmittelbaren und vollständigen Ausdruck der Seele bzw. des Ichs.
In seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ beschreibt Kleist die bewusstlose, unreflektierte Grazie bzw. Bewegung des Körpers als einen unmittelbaren und vollständigen Ausdruck der Seele. Wer hingegen über seine Bewegungen reflektiert, trennt somit den Körper von der Seele; die Körperlichkeit ist dann lediglich ein auf die Seele verweisendes Zeichen.[3] Vom sportlichen Bewegen ist dies bekannt: Werden Bewegungen ohne nachzudenken und spontan ausgeführt, so sind sie in den meisten Fällen gelungener als solche Bewegungen, über die vorher lange `nachgegrübelt´ wurde. Ähnlich ist es mit der Sprache: Kleist sucht nach einer Sprache bzw. „nach einer kommunikativen Rede, die das Ich unmittelbar und vollständig ausdrückt“.[4] Bei seinen Betrachtungen erkennt er, dass die Sprache dies im Paradigma des traditionellen Sprach- bzw. Kommunikationsmodells nicht leisten kann. Grund dafür ist die für das Kommunikationsmodell charakteristische Trennung zwischen Denken und Sprechen. Diese Trennung ist im 18. Jahrhundert philosophisches Allgemeingut, wie der Anfang des Artikels „Sprache“ aus Zedlers Universallexikon von 1745 mit seiner Unterscheidung zwischen „Stimme“ (Sprache) und „Gedancken“ (Denken) belegt: „Das Wort Sprache hat zweyerley Bedeutung: Einmahl wird dadurch verstanden das Vermögen, welches der Mensch hat, seine Gedancken durch eine vernehmliche Stimme zu erkennen zu geben [...Und andererseits] bedeutet es die vernehmliche Stimme selbst, durch welche ein Mensch dem andern seine Gedancken mittheilet [...].“[5] Da Sprache der reflektierte Ausdruck von beim Sprechen schon `geronnener´ Gedanken ist, kann sie nicht direkt und vollständig die Seele ausdrücken und trägt aufgrund dieser Eigenschaft dazu bei, dass die „gebrechliche Einrichtung der Welt“[6] bestehen bleibt. Jederzeit muss man der Sprache misstrauen und fürchten, von seinem Gegenüber nicht verstanden zu werden.
In den traditionellen Ansichten über Sprache wird sie als Kommunikationssystem gesehen, welches zur Übermittlung von Informationen dient. Dabei spielen – in moderner Terminologie – die Begriffe `Sprecher´, `Hörer´, `Ausdruck´ (Code) und `Inhalt´ (Message) eine zentrale Rolle: Bevor der Sprecher eine Äußerung tätigt, steht das, was er sagen will, der Ausdruck, schon fest; die `fertigen´ Gedanken (die Inhalte) werden von Sprecher zu Hörer übermittelt. Die Sprache ist in diesem Zusammenhang von den Gedanken getrennt, und dies kann Missverständnisse und Unwahrheit hervorrufen.
Im Aufsatz „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ – allein der Titel kündigt schon eine neue Betrachtungsweise an – beschreibt Kleist ein alternatives Modell zur Betrachtung von Sprache. Er entwickelt dieses Modell, indem er das traditionelle Kommunikationsmodell negiert: er schreibt nicht „über die allmähliche Verfertigung des Redens beim Denken, sondern über die allmähliche Verfertigung des Denkens beim Reden“.[7]
Indem er „die Prinzipien wahrheitserhaltender Kommunikation entwickelt“[8], versucht Kleist zu erreichen, die Sprache als unmittelbaren und vollständigen Ausdruck der Seele bzw. des Ichs darzustellen und somit verlässlicher in einer sonst nicht verlässlichen Welt zu machen. Im Folgenden sollen die Prinzipien der Verfertigung der Gedanken beim Reden dargestellt werden.
Weil Kleist, um sein Modell zu beschreiben, des traditionellen Kommunikationsmodells bedarf, sind in seinem Aufsatz immer beide Modelle präsent. Dies ist schon im ersten Satz zu erkennen; die Grundstrukturen der beiden Modelle werden durch die Begriffe „Meditation“ und „Sprechen“ sichtbar.[9] „Meditation“ steht für das traditionelle Modell; „Sprechen“, womit unbedingt das laute Sprechen gemeint ist, steht für das Kleist´sche Modell.
Um etwas zu erfahren, sollte man laut Kleist also mit einem anderen Menschen darüber sprechen. Doch sollte man diesen Menschen nicht befragen, wie es im traditionellen Modell der Fall wäre, sondern ihm/ihr von den Dingen erzählen, die einen beschäftigen. Im Gegensatz zum traditionellen Modell braucht der/die Andere im Kontext des alternativen Modells „nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein“[10], da er/sie nicht belehren soll; das Belehren ist einem selbst überlassen. Es soll in der Absicht, sich selbst zu belehren, gesprochen werden. Dem Wort „Belehren“ wird hier ein doppelter Sinn zugesprochen: „In traditioneller Auffassung bedeutet es Mitteilen von Wissen als Resultat des Denkprozesses („andere belehren“), im Kleist´schen Modell als „sich belehren“ den Prozeß der lauten Gedankenproduktion selbst im nicht fragend-belehrenden Erzählen.“[11]
Nachdem beide Modelle antithetisch gegenübergestellt wurden, wird das Kleist´sche Modell nun näher erläutert. Indem er eine frz. Formel aus dem Bereich des Essens – „l´appétit vient en mangeant“ (`Der Appetit kommt beim Essen´) – modifiziert, er sagt „l´idée vient en parlant“ (`Der Gedanke kommt beim Reden´), formuliert er die Hauptthese seiner Abhandlung.[12] In einigen Fällen werden die von Kleist beschriebenen Prinzipien im Text selbst dargestellt; so auch in folgendem Satz: „Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären.“[13] Das Wort „Bestreben“ schildert den Prozess der Gedankenverfertigung, der eingeschobene Nebensatz steht für den Verlauf dieses Prozesses, der `fertige´ Gedanke ist „sich aufzuklären“.[14] Kleist beschreibt sein Vorgehen, wenn er etwas wissen bzw. erfahren will. Er erzählt das, was ihn beschäftigt, seiner Schwester, die ihm beim Hervorbringen seiner Gedanken nicht hilft; weder fragt sie ihn, noch sagt sie ihm, was er wissen will, denn „sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert.“[15] Der Meditation – „stundenlanges Brüten“[16] als anderer Ausdruck dafür – wird das laute Reden mit der Schwester gegenübergestellt. Es wird hervorgehoben, dass Kleist nicht an einen Dialog mit ihr denkt; sie redet nicht mit ihm, hört ihm nur zu und ist nebenher mit anderen Dingen beschäftigt. Eine der Voraussetzungen für eine „Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ist eine „dunkle Vorstellung“[17] von dem, was gesucht wird. Dabei ist es nicht von Bedeutung, wie dunkel und verworren die `Ausgangsgedanken´ sind, man muss nur den Mut haben, um „dreist damit den Anfang [zu] mache[n]“.[18] Dieser Mut ist eine weitere Voraussetzung. Außerdem sind die äußeren Umstände (z.B. die Gegenwart und die Gestik und Mimik der Schwester) wichtig, um die daraus resultierende Erregung des Gemüts herbeizuführen. Mit `Erregung des Gemüts´ ist die Motivation, mit dem Reden zu beginnen, gemeint. In der Beschreibung des zwischen „dunklem“ Anfang und „deutlichem“ Ende liegenden Erkenntnisprozesses tauchen drei zentrale Begriffe auf: Ich, Gemüt und Rede. Wieder wird durch den Satzbau der zu beschreibende Prozess der Gedankenverfertigung beim Reden verdeutlicht: Zunächst hat das „Ich“ eine „dunkle Vorstellung“ von dem, was gesucht wird; aufgrund der genannten Voraussetzungen beginnt das „Ich“ mit der Rede. Der fortschreitende Prozess wird bestimmt durch die Begriffe „Gemüt“ und „Rede“.[19] Dieser `Gemüts-Mechanismus´ lässt den Redenden mit der Rede fortfahren. Um Zeit für die Verfertigung der Gedanken zu gewinnen, werden „Kunstgriffe“ wie z.B. die Beimischung von unartikulierten Tönen angewandt. Während die Rede fortschreitet, „prägt ... das Gemüt ... jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus“.[20] Denk- und Redeprozess verlaufen gleichzeitig und sind ebenfalls gleichzeitig „mit der Periode fertig“.[21]
Im traditionellen Kommunikationsmodell liegt der Denkprozess vor der Rede und „geschieht in der stummen Meditation“ – die laute Rede ist bloß noch ein Ausdruck des Denkens und hat keinen direkten Bezug mehr zum Denken bzw. zur Seele oder zum Geist; dieses Reden wird zum Belehren anderer Menschen gebraucht.[22] Anders im Kleist´schen Modell: Eine laute, kommunikative Rede hat nicht den Charakter des einander Belehrens, sondern dient dazu, sich selbst zu belehren. Der Denkprozess wird dem Redeprozess gleichgesetzt; die Rede ist die Bedingung für das Denken. Kleist verdeutlicht die zeitliche Parallelität von Denken und Reden mit Hilfe der Metapher von den parallel verlaufenden Rädern an einer Achse; bei der Gedankenverfertigung beim Reden ist die Sprache „[k]ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes“[23], sondern dessen Unterstützer.
Kleist räumt ein, dass „beide Klugheitsregeln vielleicht gut neben einander bestehen“[24] könnten. Somit soll sein Modell nicht als konkurrierend dem traditionellen Modell gegenüber, sondern als Modell, welches sich in anderen Fällen besser zur Erklärung eignet, aufgefasst werden. In den von Kleist beschriebenen Fällen, auf die im Folgenden eingegangen wird, erweist sich das Kleist´sche Modell jedoch als geeigneter zur Beschreibung der geschilderten Phänomene und kann somit sehr wohl als alternatives und konkurrierendes Sprachmodell gesehen werden.[25]
Die folgenden Beispiele sind Fälle, die das Kleist´sche Modell – und dort insbesondere die Interaktion von Sprecher und Hörer – verdeutlichen sollen. Wichtig ist die Tatsache, dass der Kommunikationspartner den Redenden dazu motiviert, die Rede zu beginnen und dann auch damit fortzufahren. Im Falle von Kleists Schwester ist es ihre Gestik – beispielsweise ein Blick, ein Kopfnicken oder die „Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte“[26], die sein Gemüt dazu bringen, die Verfertigung der Gedanken voranzutreiben.
Während vorher durch Nachdenken erworbenes Wissen im traditionellen Modell eine wichtige Vorbedingung ist, wird das Vorwissen durch folgenden Satz für das Kleist´sche Modell als unnötig bezeichnet und „gleichsam auf Null reduziert“[27]: „Ich glaube, daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde.“[28] Für das Kleist´sche Modell ist also nicht das Vorwissen, sondern die äußeren Umstände, welche die „Erregung [des] Gemüts“[29] herbeiführen, von entscheidender Bedeutung.
Das Mirabeau-Beispiel wird als „Einfall“ eingeführt; an ihm lassen sich besonders gut die äußeren Umstände und die „allmählige Verfertigung der Gedanken“ des Mirabeau bei seiner fortschreitenden Rede beobachten. Während der Versammlung der Generalstände wird Mirabeaus Gemüt durch die Umstände – z.B. die Frage des Zeremonienmeisters, ob man den Befehl des Königs vernommen hätte – so in Erregung versetzt, dass dieser mit dem Reden beginnt, ohne recht zu wissen, was er zu sagen beabsichtigt. Das ist an der zweifachen Wiederholung zu Beginn seiner Rede zu erkennen. Doch „plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf“[30], und er sagt, sie seien die Repräsentanten der Nation und dass die Nation Befehle gebe und keine empfange. Sein Gemüt treibt während des Redens den Erkenntnisprozess voran; Denken und Sprechen sind gleichzeitig abgeschlossen. Mirabeaus folgende Selbstzufriedenheit ist ein Indiz dafür, dass er exakt das gesagt hat, was er sagen wollte. Dies ist nur möglich, wenn gleichzeitig gesprochen und gedacht wird; wenn Mirabeau vorher darüber nachgedacht hätte, was er sagen würde, hätte er seine Worte nicht so gewählt und somit verfälscht. Nach Kleist war die Rede des Mirabeau der unmittelbare und vollständige Ausdruck seines ehrlichen Widerstandes bzw. seiner Seele, da seine Gedanken direkt, spontan und ohne Reflexion zu lautem Reden wurden.
Diesem Beispiel folgen der Vergleich mit einem physikalischen Modell, der Kleist´schen Flasche, und ein weiteres Beispiel aus einer Fabel. Darauf soll jedoch hier nicht näher eingegangen werden.
Wenn Reden und Denken zwei parallel verlaufende Räder an einer Achse sind und keinerlei Vorwissen zur Gedankenverfertigung nötig ist, dann sind die gesprochenen Wörter von vorbewusster, unreflektierter Natur und sind – um einen Kleist´schen Ausdruck zu verwenden – unmittelbarer Ausdruck des Ichs. Die Rede ist spontan gedacht; sie ist eine „sprachlich verfasste Assoziation“.[31] Assoziatives Denken entsteht aufgrund von Netzwerken, in denen die Inhalte miteinander verknüpft sind; liefert ein äußerer Umstand einen Inhalt, so denkt man an einen mit jenem verknüpften Inhalt (siehe Mirabeau: Befehl – König – Nation – Widerstand). Kleist beschreibt also das der fortlaufenden Rede folgende assoziative Denken.
Im vorhergehenden Text Kleists wurde das Anfangs- bzw. Endprodukt des Erkenntnisprozesses als „verworren“ / „deutlich“ beschrieben; im weiteren Text schreibt Kleist (nach der Metapher mit den parallel verlaufenden Rädern an einer Achse), dass Denk- bzw. Redeprozess selbst „verworren“ / „deutlich“ sein können. Für Kleist ist nachvollziehbar, dass verworren ausgedrückte Vorstellungen „grade am deutlichsten gedacht werden“.[32] Diese verworren ausgedrückten Vorstellungen sind Assoziationen, die keiner ordnenden Vernunft untergeordnet sind; wären sie dies, wären sie deutlich ausgedrückt, aber verworren gedacht: „Denn die sich aus dem Redestrom entwickelt habende Assoziationskette [...] ist durch die Ordnung der Vernunft zerbrochen und anders zusammengesetzt.“[33]
Anhand eines Beispiels versucht Kleist zu erklären, wie es sich bei einem Gespräch unter mehreren Menschen mit den Leuten verhält, die sich „der Sprache nicht mächtig fühlen“[34], aber trotzdem – erregt durch den äußeren Umstand des Gesprächs – ihren Vorstellungen Ausdruck verleihen wollen. Ihre verworrene Ausdrucksweise ist im Paradigma des traditionellen Modells ein Indiz für einen unklaren und noch nicht zu Ende geführten Denkprozess. Im Kleist´schen Modell weist dieser verworrene Ausdruck auf deutliches Denken, welches als „nicht vernünftiges, assoziatives [...] charakterisiert wird“[35], zurück. Nach Kleist muss also die Sprache mit Leichtigkeit und Spontaneität beherrscht werden, um den Prozess des spontanen assoziativen Denkens möglichst schnell zu Ende zu bringen und zu unterstützen.
Gegen Ende seines Aufsatzes geht Kleist auf Prüfungssituationen ein. Der Vorgang des Examinierens kann innerhalb beider vorgestellter Paradigmen betrachtet werden: Das traditionelle Modell sieht solch eine mündliche Prüfung als deutliche Wiedergabe von auswendig gelernten „deutlichen Vorstellungen“; das Kleist´sche Modell sieht die mündliche Prüfung als eine Entwicklung einer „deutlichen Vorstellung“ beim Reden (durch assoziatives Denken), welche durch die Erregung des Geistes bzw. des „Gemüts“ hervorgerufen wird. Kommunikativität ist die Voraussetzung für Erkenntnis; das Ich braucht ein Gegenüber, um zu Wissen zu gelangen.[36] Innerhalb einer Prüfungssituation müsste der Prüfer – vorausgesetzt, dieser ist Anhänger des Kleist´schen Modells – also die geeigneten „äußeren Umstände“ schaffen, um dem Prüfling zu ermöglichen, sich seiner Rede, welcher das assoziative Denken folgt, zu überlassen.
Das Kleist´sche Modell ist die vollständige Negation des traditionellen Kommunikationsmodells: „Nicht erzeugt die Innerlichkeit den äußeren Ablauf [wie im trad. Modell], sondern dieser ist Bedingung für jene [wie im Kleist´schen Modell].“[37] Kleists Aufsatz zeigt, dass sein neu entwickeltes Modell über das Denken beim Reden durchaus als ein den traditionellen Ansichten über Sprache im Allgemeinen entgegengesetztes und gleichwertiges Modell betrachtet werden kann, denn in den von Kleist beschriebenen Beispielen eignet sich seines besser als das traditionelle Modell.
Hinter dem Kleist´schen Modell steckt eine gänzlich andere Vorstellung über Sprache, und dies hat schwerwiegende Konsequenzen für diese und für die Literatur. Wie oben bereits erläutert, dient Sprache im Paradigma des traditionellen Modells zur Übertragung von Informationen; sie ist Kommunikation. In diesem Modell erfolgt eine Trennung von Sprache und Denken, da ja zuerst gedacht („Meditation“) und dann gesprochen wird. Durch diese Trennung entsteht auch eine Entfremdung zwischen Sprache und Ich, da sich das Ich durch die ordnende Vernunft und eine vielleicht übermäßige Reflexion nicht unmittelbar durch die Sprache ausdrücken lässt. Alle Informationen sind Fakten über die Welt, und da die Sprache zur Übermittlung von Informationen dient, ist sie gleichsam eine reflektierende Beschreibung der Welt. Wenn wir im Sinne des traditionellen Modells sprechen, reden wir über die Welt und trennen sie somit von der Sprache. Literatur wäre in diesem Sinne also die Übermittlung von Informationen über Dinge, die nicht existent sind; die Dichtung bezieht sich damit nicht auf die Welt, sondern auf Irreales. Literatur hat dann keinen Sinn und dient zur zweckfreien Unterhaltung oder zur Weltflucht.
Während im traditionellen Modell das Reden vom Denken getrennt wird, ist das hervorstechendste Merkmal des Kleist´schen Modells die Interdependenz von Sprache und Denken, d.h. sie sind voneinander abhängig und laufen gleichzeitig ab. Hier wird Sprache als essentielle Tätigkeit gesehen, durch die Lebenswelten oder Beziehungen gestaltet werden; Sprache ist Transformation bzw. Gestaltung. Da die Sprache das Denken und das eigene Ich gestaltet, bringt sie ersteres weiter voran und drückt letzteres unmittelbar aus. Ein Beispiel: Selbstgespräche sind, wenn man Sprache lediglich als Kommunikation betrachtet, völlig wertlos; im Sinne des Kleist´schen Transformationsmodells bringen sie das Denken weiter und drücken die unmittelbaren Gedanken aus – sie präzisieren die Gedankengänge und schaffen so Klarheit. Sprache ist hier keine Reflexion über die Welt, sondern sie dient dazu, einem selbst oder dem Anderen die Welt näher zu bringen. Die Sprache wird durch das Ich verändert und gestaltet somit die Welt; jedoch bestimmt auch die (Um-)Welt den Sprachgebrauch – somit bedingen sich auch Sprache und Welt gegenseitig. In diesem Zusammenhang nimmt Literatur teil an der Gestaltung der Lebenswelt und ist alles andere als Weltflucht. In der Dichtung ist nicht entscheidend, worüber gesprochen wird; entscheidender ist, was sie bewirkt und verändert. 
[...]


[1] vgl. Hohoff, S.32f. „Man hat sogar gezweifelt, ob es wirklich ein `Kant-Erlebnis´ gewesen sei, das Kleist schildert. Ernst Cassirer (`Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie´. Berlin 1919) vertrat die These, Kleist habe Kant nur aus zweiter Hand gekannt, und nicht Kant, sondern Fichte gelesen.“
[2] Klöckner, S.148. „Die Unsicherheit des Menschen in einer `gebrechlichen´ Welt wurde zum zentralen Thema seiner Werke, die fast ausschließlich in den fünf letzten Lebensjahren entstanden und zu des Dichters Lebzeiten kaum Beachtung fanden.“
[3] vgl. Kleist: Über das Marionettentheater, S.560. „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“
[4] Strub, S.277.                                                                                          
[5] Zedler, S.400.
[6] Klöckner, S.147.
[7] Strub, S.279.
[8] ebd., S.278.
[9] vgl. ebd., S.279
[10] Kleist: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden [im Folgenden angegeben als: Verfertigung], S.534.
[11] Strub, S.280.
[12] vgl. ebd.
[13] Kleist: Verfertigung, S.535.
[14] vgl. Strub, S.281.
[15] Kleist: Verfertigung, S.535.
[16] ebd.
[17] ebd.
[18] ebd.
[19] vgl. Strub, S.282.
[20] Kleist: Verfertigung, S.535.
[21] ebd.
[22] vgl. Strub, S.285.
[23] Kleist: Verfertigung, S.538.
[24] ebd., S.535.
[25] vgl. Strub, S.280.
[26] Kleist: Verfertigung, S.535.
[27] Strub, S.283.
[28] Kleist: Verfertigung, S.536.
[29] ebd.
[30] ebd.
[31] Strub, S.286.
[32] Kleist: Verfertigung, S.539.
[33] Strub, S.287.
[34] Kleist: Verfertigung, S.539.
[35] Strub, S.287.
[36] vgl. Strub, S.289.
[37] Strub, S.289.
---
            LITERATUR
Heinrich von Kleist (1805/1806): Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: K. Müller-Salget (Hrsg., 1990): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3: H. v. Kleist. Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassik Verlag.
Heinrich von Kleist (1810): Über das Marionettentheater. In: K. Müller-Salget (Hrsg., 1990): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3: H. v. Kleist. Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassik Verlag.
Hohoff, Curt (1999): Heinrich von Kleist. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag (Rororo-Bildmonographien).
Klöckner, Klaus (1995): Texte und Zeiten. Deutsche Literaturgeschichte. Berlin: Cornelsen Verlag.
Strub, Christian (1988): „Blosse Ausdrückung“ und „Lautes Denken“. Zu Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. In: Ars semiotica. International journal of semiotic. Vol. 11, S. 273-294. Tübingen: Gunter Narr Verlag.
Zedler, Johann Heinrich (1982): Großes vollständiges Universallexikon. Reprografie der Ausgabe Halle 1732-1754. Bd. 39: Spif-Sth. Graz: Akad. Druck u. Verlagsanstalt.

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