Ich habe mal wieder, wie ich es ab und zu gern tue, in alten Texten von mir gewühlt. Es ist interessant, wie wenig vertraut mancher Gedanke, manche Formulierung, daherkommt, und wie fremd ein solcher alter Text erscheint. Im Studium habe ich mich mit dem Dichter Heinrich von Kleist (1777-1811) und seinem Aufsatz "Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden" befasst. Darin skizziert er ein alternatives Kommunikationsmodell; er stellt heraus, dass die Rede nicht immer die bereits abgeschlossenen, "geronnenen", Gedanken befördert, sondern dem Denken zum Fortschreiten verhilft.
Was Kleist für das gesprochene Wort aussagt, nämlich dass es die "Verfertigung der Gedanken" unterstützt, gilt meines Erachtens ebenso für das Schreiben. Als Autor erlebt man es hin und wieder, dass die Geschichte "sich verselbstständigt" bzw. sich von selbst schreibt... das sind die guten Momente :-)
Hier eine Darstellung von Kleists Ansatz:
[...]
Was Kleist für das gesprochene Wort aussagt, nämlich dass es die "Verfertigung der Gedanken" unterstützt, gilt meines Erachtens ebenso für das Schreiben. Als Autor erlebt man es hin und wieder, dass die Geschichte "sich verselbstständigt" bzw. sich von selbst schreibt... das sind die guten Momente :-)
Hier eine Darstellung von Kleists Ansatz:
[...]
2. Denken beim Reden – Reden vor dem Denken
Kleist erlebte die Welt und das Leben als
Katastrophe. Zeit seines Lebens erfuhr er Bedrohungen und Rückschläge: die napoleonische
Besatzungsmacht, der Zusammenbruch des preußischen Reiches und die mangelnde
Anerkennung seines schriftstellerischen Könnens seitens seiner Dichterkollegen.
Die Beschäftigung mit Kants (oder Fichtes?)[1]
Philosophie bewog ihn, zu denken, dass der Mensch niemals vollständige
Erkenntnis über die Welt erlangen könne und er somit einer nicht berechenbaren
Welt ausgeliefert sei. Zentrales Thema seiner Werke ist eben diese Unsicherheit
des Menschen in einer „gebrechlichen“ Welt.[2]
Ein anderes Thema, jedoch mit dem zentralen Thema verknüpft, ist die Suche nach
einem unmittelbaren und vollständigen Ausdruck der Seele bzw. des Ichs.
In seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“
beschreibt Kleist die bewusstlose, unreflektierte Grazie bzw. Bewegung des
Körpers als einen unmittelbaren und vollständigen Ausdruck der Seele. Wer
hingegen über seine Bewegungen reflektiert, trennt somit den Körper von der
Seele; die Körperlichkeit ist dann lediglich ein auf die Seele verweisendes
Zeichen.[3]
Vom sportlichen Bewegen ist dies bekannt: Werden Bewegungen ohne nachzudenken
und spontan ausgeführt, so sind sie in den meisten Fällen gelungener als solche
Bewegungen, über die vorher lange `nachgegrübelt´ wurde. Ähnlich ist es mit der
Sprache: Kleist sucht nach einer Sprache bzw. „nach einer kommunikativen Rede,
die das Ich unmittelbar und vollständig ausdrückt“.[4]
Bei seinen Betrachtungen erkennt er, dass die Sprache dies im Paradigma des
traditionellen Sprach- bzw. Kommunikationsmodells nicht leisten kann. Grund
dafür ist die für das Kommunikationsmodell charakteristische Trennung zwischen
Denken und Sprechen. Diese Trennung ist im 18. Jahrhundert philosophisches
Allgemeingut, wie der Anfang des Artikels „Sprache“ aus Zedlers
Universallexikon von 1745 mit seiner Unterscheidung zwischen „Stimme“ (Sprache)
und „Gedancken“ (Denken) belegt: „Das Wort Sprache hat zweyerley Bedeutung:
Einmahl wird dadurch verstanden das Vermögen, welches der Mensch hat, seine
Gedancken durch eine vernehmliche Stimme zu erkennen zu geben [...Und andererseits]
bedeutet es die vernehmliche Stimme selbst, durch welche ein Mensch dem andern
seine Gedancken mittheilet [...].“[5]
Da Sprache der reflektierte Ausdruck von beim Sprechen schon `geronnener´
Gedanken ist, kann sie nicht direkt und vollständig die Seele ausdrücken und
trägt aufgrund dieser Eigenschaft dazu bei, dass die „gebrechliche Einrichtung
der Welt“[6]
bestehen bleibt. Jederzeit muss man der Sprache misstrauen und fürchten, von
seinem Gegenüber nicht verstanden zu werden.
In den traditionellen Ansichten über Sprache
wird sie als Kommunikationssystem gesehen, welches zur Übermittlung von
Informationen dient. Dabei spielen – in moderner Terminologie – die Begriffe
`Sprecher´, `Hörer´, `Ausdruck´ (Code) und `Inhalt´ (Message) eine zentrale
Rolle: Bevor der Sprecher eine Äußerung tätigt, steht das, was er sagen will,
der Ausdruck, schon fest; die `fertigen´ Gedanken (die Inhalte) werden von
Sprecher zu Hörer übermittelt. Die Sprache ist in diesem Zusammenhang von den
Gedanken getrennt, und dies kann Missverständnisse und Unwahrheit hervorrufen.
Im Aufsatz „Über die allmählige Verfertigung
der Gedanken beim Reden“ – allein der Titel kündigt schon eine neue
Betrachtungsweise an – beschreibt Kleist ein alternatives Modell zur
Betrachtung von Sprache. Er entwickelt dieses Modell, indem er das
traditionelle Kommunikationsmodell negiert: er schreibt nicht „über die
allmähliche Verfertigung des Redens beim Denken, sondern über die allmähliche
Verfertigung des Denkens beim Reden“.[7]
Indem er „die Prinzipien wahrheitserhaltender
Kommunikation entwickelt“[8],
versucht Kleist zu erreichen, die Sprache als unmittelbaren und vollständigen
Ausdruck der Seele bzw. des Ichs darzustellen und somit verlässlicher in einer
sonst nicht verlässlichen Welt zu machen. Im Folgenden sollen die Prinzipien
der Verfertigung der Gedanken beim Reden dargestellt werden.
Weil Kleist, um sein Modell zu beschreiben, des
traditionellen Kommunikationsmodells bedarf, sind in seinem Aufsatz immer beide
Modelle präsent. Dies ist schon im ersten Satz zu erkennen; die Grundstrukturen
der beiden Modelle werden durch die Begriffe „Meditation“ und „Sprechen“
sichtbar.[9]
„Meditation“ steht für das traditionelle Modell; „Sprechen“, womit unbedingt
das laute Sprechen gemeint ist, steht für das Kleist´sche Modell.
Um etwas zu erfahren, sollte man laut Kleist
also mit einem anderen Menschen darüber sprechen. Doch sollte man diesen
Menschen nicht befragen, wie es im traditionellen Modell der Fall wäre, sondern
ihm/ihr von den Dingen erzählen, die einen beschäftigen. Im Gegensatz zum
traditionellen Modell braucht der/die Andere im Kontext des alternativen
Modells „nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein“[10],
da er/sie nicht belehren soll; das Belehren ist einem selbst überlassen. Es
soll in der Absicht, sich selbst zu belehren, gesprochen werden. Dem Wort
„Belehren“ wird hier ein doppelter Sinn zugesprochen: „In traditioneller
Auffassung bedeutet es Mitteilen von Wissen als Resultat des Denkprozesses
(„andere belehren“), im Kleist´schen Modell als „sich belehren“ den Prozeß der
lauten Gedankenproduktion selbst im nicht fragend-belehrenden Erzählen.“[11]
Nachdem beide Modelle antithetisch
gegenübergestellt wurden, wird das Kleist´sche Modell nun näher erläutert.
Indem er eine frz. Formel aus dem Bereich des Essens – „l´appétit vient en
mangeant“ (`Der Appetit kommt beim Essen´) – modifiziert, er sagt „l´idée vient
en parlant“ (`Der Gedanke kommt beim Reden´), formuliert er die Hauptthese
seiner Abhandlung.[12]
In einigen Fällen werden die von Kleist beschriebenen Prinzipien im Text selbst
dargestellt; so auch in folgendem Satz: „Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht
zu sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein
innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären.“[13]
Das Wort „Bestreben“ schildert den Prozess der Gedankenverfertigung, der
eingeschobene Nebensatz steht für den Verlauf dieses Prozesses, der `fertige´
Gedanke ist „sich aufzuklären“.[14]
Kleist beschreibt sein Vorgehen, wenn er etwas wissen bzw. erfahren will. Er
erzählt das, was ihn beschäftigt, seiner Schwester, die ihm beim Hervorbringen
seiner Gedanken nicht hilft; weder fragt sie ihn, noch sagt sie ihm, was er
wissen will, denn „sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder
den Kästner studiert.“[15]
Der Meditation – „stundenlanges Brüten“[16]
als anderer Ausdruck dafür – wird das laute Reden mit der Schwester
gegenübergestellt. Es wird hervorgehoben, dass Kleist nicht an einen Dialog mit
ihr denkt; sie redet nicht mit ihm, hört ihm nur zu und ist nebenher mit
anderen Dingen beschäftigt. Eine der Voraussetzungen für eine „Verfertigung der
Gedanken beim Reden“ ist eine „dunkle Vorstellung“[17]
von dem, was gesucht wird. Dabei ist es nicht von Bedeutung, wie dunkel und
verworren die `Ausgangsgedanken´ sind, man muss nur den Mut haben, um „dreist
damit den Anfang [zu] mache[n]“.[18]
Dieser Mut ist eine weitere Voraussetzung. Außerdem sind die äußeren Umstände
(z.B. die Gegenwart und die Gestik und Mimik der Schwester) wichtig, um die
daraus resultierende Erregung des Gemüts herbeizuführen. Mit `Erregung des
Gemüts´ ist die Motivation, mit dem Reden zu beginnen, gemeint. In der
Beschreibung des zwischen „dunklem“ Anfang und „deutlichem“ Ende liegenden
Erkenntnisprozesses tauchen drei zentrale Begriffe auf: Ich, Gemüt und Rede.
Wieder wird durch den Satzbau der zu beschreibende Prozess der
Gedankenverfertigung beim Reden verdeutlicht: Zunächst hat das „Ich“ eine
„dunkle Vorstellung“ von dem, was gesucht wird; aufgrund der genannten
Voraussetzungen beginnt das „Ich“ mit der Rede. Der fortschreitende Prozess
wird bestimmt durch die Begriffe „Gemüt“ und „Rede“.[19]
Dieser `Gemüts-Mechanismus´ lässt den Redenden mit der Rede fortfahren. Um Zeit
für die Verfertigung der Gedanken zu gewinnen, werden „Kunstgriffe“ wie z.B.
die Beimischung von unartikulierten Tönen angewandt. Während die Rede
fortschreitet, „prägt ... das Gemüt ... jene verworrene Vorstellung zur
völligen Deutlichkeit aus“.[20]
Denk- und Redeprozess verlaufen gleichzeitig und sind ebenfalls gleichzeitig
„mit der Periode fertig“.[21]
Im traditionellen Kommunikationsmodell liegt
der Denkprozess vor der Rede und „geschieht in der stummen Meditation“ – die
laute Rede ist bloß noch ein Ausdruck des Denkens und hat keinen direkten Bezug
mehr zum Denken bzw. zur Seele oder zum Geist; dieses Reden wird zum Belehren
anderer Menschen gebraucht.[22]
Anders im Kleist´schen Modell: Eine laute, kommunikative Rede hat nicht den
Charakter des einander Belehrens, sondern dient dazu, sich selbst zu belehren.
Der Denkprozess wird dem Redeprozess gleichgesetzt; die Rede ist die Bedingung
für das Denken. Kleist verdeutlicht die zeitliche Parallelität von Denken und
Reden mit Hilfe der Metapher von den parallel verlaufenden Rädern an einer
Achse; bei der Gedankenverfertigung beim Reden ist die Sprache „[k]ein
Hemmschuh an dem Rade des Geistes“[23],
sondern dessen Unterstützer.
Kleist räumt ein, dass „beide Klugheitsregeln
vielleicht gut neben einander bestehen“[24]
könnten. Somit soll sein Modell nicht als konkurrierend dem traditionellen
Modell gegenüber, sondern als Modell, welches sich in anderen Fällen besser zur
Erklärung eignet, aufgefasst werden. In den von Kleist beschriebenen Fällen,
auf die im Folgenden eingegangen wird, erweist sich das Kleist´sche Modell
jedoch als geeigneter zur Beschreibung der geschilderten Phänomene und kann
somit sehr wohl als alternatives und konkurrierendes Sprachmodell gesehen
werden.[25]
Die folgenden Beispiele sind Fälle, die das
Kleist´sche Modell – und dort insbesondere die Interaktion von Sprecher und
Hörer – verdeutlichen sollen. Wichtig ist die Tatsache, dass der
Kommunikationspartner den Redenden dazu motiviert, die Rede zu beginnen und
dann auch damit fortzufahren. Im Falle von Kleists Schwester ist es ihre Gestik
– beispielsweise ein Blick, ein Kopfnicken oder die „Bewegung meiner Schwester,
als ob sie mich unterbrechen wollte“[26],
die sein Gemüt dazu bringen, die Verfertigung der Gedanken voranzutreiben.
Während vorher durch Nachdenken erworbenes
Wissen im traditionellen Modell eine wichtige Vorbedingung ist, wird das
Vorwissen durch folgenden Satz für das Kleist´sche Modell als unnötig
bezeichnet und „gleichsam auf Null reduziert“[27]:
„Ich glaube, daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund
aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde.“[28]
Für das Kleist´sche Modell ist also nicht das Vorwissen, sondern die äußeren
Umstände, welche die „Erregung [des] Gemüts“[29]
herbeiführen, von entscheidender Bedeutung.
Das Mirabeau-Beispiel wird als „Einfall“
eingeführt; an ihm lassen sich besonders gut die äußeren Umstände und die
„allmählige Verfertigung der Gedanken“ des Mirabeau bei seiner fortschreitenden
Rede beobachten. Während der Versammlung der Generalstände wird Mirabeaus Gemüt
durch die Umstände – z.B. die Frage des Zeremonienmeisters, ob man den Befehl
des Königs vernommen hätte – so in Erregung versetzt, dass dieser mit dem Reden
beginnt, ohne recht zu wissen, was er zu sagen beabsichtigt. Das ist an der
zweifachen Wiederholung zu Beginn seiner Rede zu erkennen. Doch „plötzlich geht
ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf“[30],
und er sagt, sie seien die Repräsentanten der Nation und dass die Nation
Befehle gebe und keine empfange. Sein Gemüt treibt während des Redens den
Erkenntnisprozess voran; Denken und Sprechen sind gleichzeitig abgeschlossen.
Mirabeaus folgende Selbstzufriedenheit ist ein Indiz dafür, dass er exakt das
gesagt hat, was er sagen wollte. Dies ist nur möglich, wenn gleichzeitig
gesprochen und gedacht wird; wenn Mirabeau vorher darüber nachgedacht hätte,
was er sagen würde, hätte er seine Worte nicht so gewählt und somit verfälscht.
Nach Kleist war die Rede des Mirabeau der unmittelbare und vollständige
Ausdruck seines ehrlichen Widerstandes bzw. seiner Seele, da seine Gedanken
direkt, spontan und ohne Reflexion zu lautem Reden wurden.
Diesem Beispiel folgen der Vergleich mit einem
physikalischen Modell, der Kleist´schen Flasche, und ein weiteres Beispiel aus
einer Fabel. Darauf soll jedoch hier nicht näher eingegangen werden.
Wenn Reden und Denken zwei parallel verlaufende
Räder an einer Achse sind und keinerlei Vorwissen zur Gedankenverfertigung
nötig ist, dann sind die gesprochenen Wörter von vorbewusster, unreflektierter
Natur und sind – um einen Kleist´schen Ausdruck zu verwenden – unmittelbarer
Ausdruck des Ichs. Die Rede ist spontan gedacht; sie ist eine „sprachlich
verfasste Assoziation“.[31]
Assoziatives Denken entsteht aufgrund von Netzwerken, in denen die Inhalte
miteinander verknüpft sind; liefert ein äußerer Umstand einen Inhalt, so denkt
man an einen mit jenem verknüpften Inhalt (siehe Mirabeau: Befehl – König –
Nation – Widerstand). Kleist beschreibt also das der fortlaufenden Rede
folgende assoziative Denken.
Im vorhergehenden Text Kleists wurde das
Anfangs- bzw. Endprodukt des Erkenntnisprozesses als „verworren“ / „deutlich“
beschrieben; im weiteren Text schreibt Kleist (nach der Metapher mit den
parallel verlaufenden Rädern an einer Achse), dass Denk- bzw. Redeprozess
selbst „verworren“ / „deutlich“ sein können. Für Kleist ist nachvollziehbar,
dass verworren ausgedrückte Vorstellungen „grade am deutlichsten gedacht
werden“.[32]
Diese verworren ausgedrückten Vorstellungen sind Assoziationen, die keiner
ordnenden Vernunft untergeordnet sind; wären sie dies, wären sie deutlich
ausgedrückt, aber verworren gedacht: „Denn die sich aus dem Redestrom
entwickelt habende Assoziationskette [...] ist durch die Ordnung der Vernunft
zerbrochen und anders zusammengesetzt.“[33]
Anhand eines Beispiels versucht Kleist zu
erklären, wie es sich bei einem Gespräch unter mehreren Menschen mit den Leuten
verhält, die sich „der Sprache nicht mächtig fühlen“[34],
aber trotzdem – erregt durch den äußeren Umstand des Gesprächs – ihren
Vorstellungen Ausdruck verleihen wollen. Ihre verworrene Ausdrucksweise ist im
Paradigma des traditionellen Modells ein Indiz für einen unklaren und noch
nicht zu Ende geführten Denkprozess. Im Kleist´schen Modell weist dieser
verworrene Ausdruck auf deutliches Denken, welches als „nicht vernünftiges,
assoziatives [...] charakterisiert wird“[35],
zurück. Nach Kleist muss also die Sprache mit Leichtigkeit und Spontaneität
beherrscht werden, um den Prozess des spontanen assoziativen Denkens möglichst
schnell zu Ende zu bringen und zu unterstützen.
Gegen Ende seines Aufsatzes geht Kleist auf
Prüfungssituationen ein. Der Vorgang des Examinierens kann innerhalb beider vorgestellter
Paradigmen betrachtet werden: Das traditionelle Modell sieht solch eine
mündliche Prüfung als deutliche Wiedergabe von auswendig gelernten „deutlichen
Vorstellungen“; das Kleist´sche Modell sieht die mündliche Prüfung als eine
Entwicklung einer „deutlichen Vorstellung“ beim Reden (durch assoziatives
Denken), welche durch die Erregung des Geistes bzw. des „Gemüts“ hervorgerufen
wird. Kommunikativität ist die Voraussetzung für Erkenntnis; das Ich braucht
ein Gegenüber, um zu Wissen zu gelangen.[36]
Innerhalb einer Prüfungssituation müsste der Prüfer – vorausgesetzt, dieser ist
Anhänger des Kleist´schen Modells – also die geeigneten „äußeren Umstände“
schaffen, um dem Prüfling zu ermöglichen, sich seiner Rede, welcher das
assoziative Denken folgt, zu überlassen.
Das Kleist´sche Modell ist die vollständige
Negation des traditionellen Kommunikationsmodells: „Nicht erzeugt die
Innerlichkeit den äußeren Ablauf [wie im trad. Modell], sondern dieser ist
Bedingung für jene [wie im Kleist´schen Modell].“[37]
Kleists Aufsatz zeigt, dass sein neu entwickeltes Modell über das Denken beim
Reden durchaus als ein den traditionellen Ansichten über Sprache im Allgemeinen
entgegengesetztes und gleichwertiges Modell betrachtet werden kann, denn in den
von Kleist beschriebenen Beispielen eignet sich seines besser als das
traditionelle Modell.
Hinter dem Kleist´schen Modell steckt eine
gänzlich andere Vorstellung über Sprache, und dies hat schwerwiegende
Konsequenzen für diese und für die Literatur. Wie oben bereits erläutert, dient
Sprache im Paradigma des traditionellen Modells zur Übertragung von
Informationen; sie ist Kommunikation. In diesem Modell erfolgt eine Trennung
von Sprache und Denken, da ja zuerst gedacht („Meditation“) und dann gesprochen
wird. Durch diese Trennung entsteht auch eine Entfremdung zwischen Sprache und
Ich, da sich das Ich durch die ordnende Vernunft und eine vielleicht übermäßige
Reflexion nicht unmittelbar durch die Sprache ausdrücken lässt. Alle
Informationen sind Fakten über die Welt, und da die Sprache zur Übermittlung
von Informationen dient, ist sie gleichsam eine reflektierende Beschreibung der
Welt. Wenn wir im Sinne des traditionellen Modells sprechen, reden wir über die
Welt und trennen sie somit von der Sprache. Literatur wäre in diesem Sinne also
die Übermittlung von Informationen über Dinge, die nicht existent sind; die
Dichtung bezieht sich damit nicht auf die Welt, sondern auf Irreales. Literatur
hat dann keinen Sinn und dient zur zweckfreien Unterhaltung oder zur
Weltflucht.
Während im traditionellen Modell das Reden vom
Denken getrennt wird, ist das hervorstechendste Merkmal des Kleist´schen
Modells die Interdependenz von Sprache und Denken, d.h. sie sind voneinander
abhängig und laufen gleichzeitig ab. Hier wird Sprache als essentielle
Tätigkeit gesehen, durch die Lebenswelten oder Beziehungen gestaltet werden;
Sprache ist Transformation bzw. Gestaltung. Da die Sprache das Denken und das
eigene Ich gestaltet, bringt sie ersteres weiter voran und drückt letzteres
unmittelbar aus. Ein Beispiel: Selbstgespräche sind, wenn man Sprache lediglich
als Kommunikation betrachtet, völlig wertlos; im Sinne des Kleist´schen
Transformationsmodells bringen sie das Denken weiter und drücken die
unmittelbaren Gedanken aus – sie präzisieren die Gedankengänge und schaffen so
Klarheit. Sprache ist hier keine Reflexion über die Welt, sondern sie dient
dazu, einem selbst oder dem Anderen die Welt näher zu bringen. Die Sprache wird
durch das Ich verändert und gestaltet somit die Welt; jedoch bestimmt auch die
(Um-)Welt den Sprachgebrauch – somit bedingen sich auch Sprache und Welt
gegenseitig. In diesem Zusammenhang nimmt Literatur teil an der Gestaltung der
Lebenswelt und ist alles andere als Weltflucht. In der Dichtung ist nicht
entscheidend, worüber gesprochen wird; entscheidender ist, was sie bewirkt und
verändert.
[...]
[1] vgl. Hohoff, S.32f. „Man
hat sogar gezweifelt, ob es wirklich ein `Kant-Erlebnis´ gewesen sei, das
Kleist schildert. Ernst Cassirer (`Heinrich von Kleist und die Kantische
Philosophie´. Berlin 1919) vertrat die These, Kleist habe Kant nur aus zweiter
Hand gekannt, und nicht Kant, sondern Fichte gelesen.“
[2] Klöckner, S.148. „Die
Unsicherheit des Menschen in einer `gebrechlichen´ Welt wurde zum zentralen
Thema seiner Werke, die fast ausschließlich in den fünf letzten Lebensjahren
entstanden und zu des Dichters Lebzeiten kaum Beachtung fanden.“
[3] vgl. Kleist: Über das
Marionettentheater, S.560. „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche
Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“
[4]
Strub, S.277.
[5] Zedler, S.400.
[6] Klöckner, S.147.
[7] Strub, S.279.
[8] ebd., S.278.
[9] vgl. ebd., S.279
[10] Kleist: Über die
allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden [im Folgenden angegeben als:
Verfertigung], S.534.
[11] Strub, S.280.
[12] vgl. ebd.
[13] Kleist: Verfertigung, S.535.
[14] vgl. Strub, S.281.
[15] Kleist: Verfertigung,
S.535.
[16] ebd.
[17] ebd.
[18] ebd.
[19] vgl. Strub, S.282.
[20] Kleist: Verfertigung,
S.535.
[21] ebd.
[22] vgl. Strub, S.285.
[23] Kleist: Verfertigung,
S.538.
[24] ebd., S.535.
[25] vgl. Strub, S.280.
[26] Kleist: Verfertigung,
S.535.
[27] Strub, S.283.
[28] Kleist: Verfertigung,
S.536.
[29] ebd.
[30] ebd.
[31] Strub, S.286.
[32] Kleist: Verfertigung,
S.539.
[33] Strub, S.287.
[34] Kleist: Verfertigung,
S.539.
[35] Strub, S.287.
[36] vgl. Strub, S.289.
[37] Strub, S.289.
---
LITERATUR
Heinrich von Kleist (1805/1806): Über die
allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: K. Müller-Salget (Hrsg.,
1990): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3:
H. v. Kleist. Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften. Frankfurt a. M.:
Deutscher Klassik Verlag.
Heinrich von Kleist (1810): Über das
Marionettentheater. In: K. Müller-Salget (Hrsg., 1990): Heinrich von Kleist.
Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3: H. v. Kleist. Erzählungen.
Anekdoten. Gedichte. Schriften. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassik Verlag.
Hohoff, Curt (1999): Heinrich von Kleist. Mit
Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag
(Rororo-Bildmonographien).
Klöckner, Klaus (1995): Texte und Zeiten.
Deutsche Literaturgeschichte. Berlin: Cornelsen Verlag.
Strub, Christian (1988): „Blosse Ausdrückung“
und „Lautes Denken“. Zu Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden“. In: Ars
semiotica. International journal of semiotic. Vol. 11, S. 273-294. Tübingen: Gunter Narr
Verlag.
Zedler, Johann Heinrich (1982): Großes vollständiges
Universallexikon. Reprografie der Ausgabe Halle 1732-1754. Bd. 39: Spif-Sth. Graz: Akad. Druck u.
Verlagsanstalt.
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