"Einfach so" ist aus der Perspektive des fiktiven Pfarrers Lukas Burgfried verfasst, der in der Zukunft seine Lebenserinnerungen schreibt. In der Episode, von der er berichtet, geht es um eine Unterrichtsstunde zum Thema Luther.
In der Publikation zum Schreibwettbewerb "sola scriptura 2017" ist die zum Text gehörende Literaturangabe leider in den Info-Abschnitt zu meiner Person und Veröffentlichungen gerutscht. Darauf hatte ich im Vorfeld hingewiesen, doch es wurde nicht berücksichtigt. Deshalb ist richtigzustellen, dass die folgende Literaturangabe ein Element des Textes "Einfach so" ist:
(c) HV
In der Publikation zum Schreibwettbewerb "sola scriptura 2017" ist die zum Text gehörende Literaturangabe leider in den Info-Abschnitt zu meiner Person und Veröffentlichungen gerutscht. Darauf hatte ich im Vorfeld hingewiesen, doch es wurde nicht berücksichtigt. Deshalb ist richtigzustellen, dass die folgende Literaturangabe ein Element des Textes "Einfach so" ist:
[Text-Ausschnitt aus: Abkehr vom
Leid. Erinnerungen des Pfarrers Lukas Burgfried. 2001-2061. Neudorf:
Wege-Verlag.]
Es gibt eine Langfassung des Textes, die ich hier nun poste:
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Einfach so
Nun komme ich zu einer Episode
aus meiner Schulzeit, von der ich immer mehr glaube, dass sie etwas Bedeutsames
darüber aussagt, was in der Folgezeit geschah.
Der Lehrer, der bei uns in der
siebten Klasse das Fach Werte und Normen unterrichtete, hieß Herr Tilly.
Ausgerechnet der Feldherr, der im Dreißigjährigen Krieg für die Katholische
Liga kämpfte, war der Namensvetter unseres Lehrers, der mit leuchtenden Augen
von Martin Luther erzählte. Der Reformator und sein Wirken waren nämlich das
Thema des aktuellen Unterrichtsabschnitts.
Ich kann mich nicht an viele
Dinge aus meiner Schulzeit erinnern – schließlich sind seither mehr als fünfzig
Jahre vergangen. Es war eine Zeit der Unruhe damals: Alle wollten alles haben.
In vielen Bereichen deutete sich aber bereits an, was kommen würde. Was die
Welt verändern würde… doch ich schweife ab. Das alles haben wir überwunden, und
ich habe an anderer Stelle berichtet, wie ich diese Zeit des Umbruchs erlebt
habe.
Immer wieder in den letzten
Jahrzehnten habe ich – beruflich und privat – darüber nachgedacht, was Luther
uns hinterlassen hat: den wirkmächtigen Stempel, den er der deutschen Sprache
aufdrückte, und die Auffassung, jeder solle selbst in der Bibel lesen können,
um zu Gott zu finden.
Und eben das, was wir in jener
Unterrichtsstunde lernten:
Herr Tilly berichtete, wie
Martin, der junge Student der Rechtswissenschaft, fast vom Blitz getroffen
wird. Tief bestürzt kommt er zu der Auffassung, dass Gott ihm böse ist, und er
verspricht ins Kloster einzutreten, um Gottes Groll auf ihn zu mildern. Hier
sieht man Martins festen Charakter, denn obwohl niemand sein Versprechen im
Unwetter gehört hat, gedenkt er es einzuhalten, ohne auf Einwände von Freunden
und Familie zu achten. So wird er Mönch, mit Anfang zwanzig. Er betet und
arbeitet, hält an strengen Regeln fest. Aber die Zweifel bleiben: Reicht es,
was ich tue, um Gott zu gefallen? Was, wenn nicht? Was will Gott von mir, was kann
ich noch geben? Er liest und liest, fragt und fragt in sich hinein. Schließlich
stößt er auf den Römerbrief des Apostels Paulus, der ihm hilft. Er begreift,
dass er sich Gottes Liebe nicht verdienen kann, nein, er braucht sie sich nicht
zu erarbeiten! Gott schenkt sie den Menschen – einfach so, wenn sie dieses
Geschenk annehmen, wenn sie glauben! Diese Entdeckung befreit Martin von seinen
Grübeleien, und er beschließt, sie in die Welt zu tragen. Dass dies ein
empfindlicher Schlag gegen den lukrativen Ablasshandel der Kirche ist, lässt
sich leicht nachvollziehen, und auch, dass es danach zur Kirchenspaltung und
zum Dreißigjährigen Krieg kommt. So waren die Menschen.
Wir lasen Texte dazu, und
sprachen darüber, Herr Tilly und wir. Wir saßen auf unseren Plätzen, der Lehrer
dominierte das Geschehen, und die meisten hörten zu. Weil sie wussten, dass das
von ihnen erwartet wurde. Sie mussten. Für eine gute Note. In meinem Fall: für
das Leben. Dann wollte Herr Tilly, dass wir das Gelernte in eigenen Worten aufschreiben
und dabei insbesondere auf Luthers Entdeckung, die ihn aus dem Dunkel des
Zweifels herausführte, eingehen. Alle holten ihre Schreibsachen hervor und
begannen zu schreiben. Alle bis auf einen. Mathis, mein Sitznachbar, lehnte
sich zurück, verschränkte die Arme und blickte Herrn Tilly freundlich an.
Dieser bemerkte Mathis‘ leeren Tisch und seine Arbeitsverweigerung zunächst
nicht. Doch dann, vom Lehrbuch auf dem Pult aufblickend, fragte er ungehalten:
„Mathis, was ist das Problem?
Warum tust du nichts?“
Der entgegnete lässig:
„Sie haben’s doch gerade selbst
gesagt: Wir brauchen uns nicht zu quälen und die ganze Zeit zu arbeiten. Wir
sind gut so, wie wir sind. Wir müssen nur glauben.“
Die gesamte Klasse hatte
zwischenzeitlich aufgehört zu schreiben und blickte nun gespannt zwischen ihrem
Mitschüler und Herrn Tilly hin und her. Denn allen war klar, manchmal konnte
ihr Lehrer durchaus das Verhalten eines Feldherrn an den Tag legen, wenn es
nicht nach seinen Vorstellungen lief. Mit routinierten, zackigen Bewegungen
stand er auf und baute sich im Raum auf, dabei schaute er die ganze Zeit Mathis
an. Es war still. Herr Tilly hatte die Stirn in Falten gelegt, Mathis erwiderte
den Blick des Lehrers tapfer, doch ich sah von der Seite, dass er nervös wurde,
weil er blinzelte. Er fragte sich wohl, ob er nicht zu weit gegangen war. Herr
Tilly schritt zu Mathis‘ Tisch und stützte sich mit beiden Händen darauf ab.
Der Widerstand brach: Mathis machte Anstalten, seine Schreibsachen
hervorzuholen und wie alle anderen zu beginnen. Dann legte ich meinen Stift zur
Seite und schloss mein Heft; Mathis hielt inne. Er brauchte Verstärkung. Einige
andere taten es mir gleich. Bis die ganze Klasse zurückgelehnt dasaß und Herrn
Tilly erwartungsvoll und etwas furchtsam ansah. Herr Tilly lachte, dann seufzte
er.
„Was sagt man dazu? Ihr habt
Luthers Idee wohl verstanden, aber einen falschen Schluss gezogen.“
Er ging zu seinem Pult zurück und
setzte sich. Dann nahm er sich die Zeit und blickte jede Schülerin und jeden
Schüler genau an. Dann versuchte Herr Tilly uns davon zu überzeugen, dass es
nun unsere Aufgabe wäre, die Stunde mit ihm fortzusetzen, und dass es einen
Unterschied zwischen dem, was Gott will, und dem, was die Gesellschaft fordert,
gäbe. Irgendwann schrieben wir unsere Texte zu Ende, doch ich weiß, dass in mir
– und sicher auch in anderen – ein leiser, aber nicht zu überhörender Zweifel
blieb. In den Tagen nach dieser Unterrichtsstunde dachte ich darüber nach, was
ich Herrn Tilly hätte antworten können:
Ist es denn richtig, dass es
zwischen dem Willen Gottes und den Forderungen der Gesellschaft einen
Unterschied gibt? Müssen wir denn immer nur noch mehr leisten, arbeiten, haben?
Wohin führt das? Was hat das mit Glauben zu tun – und ist Glaube denn
eigentlich nichts anderes als die Überzeugung, in ein letztlich liebendes
Ganzes eingebettet zu sein? Was ist, wenn wir dieses Ganze durch unser Tun, das
die Gesellschaft – nicht Gott – fordert, zerstören? Ist es dann nicht
vernünftig, damit aufzuhören und uns zu fragen, was wirklich wichtig für uns
Menschen ist? Nämlich andere Menschen, Heimat, Anerkennung, Wärme…
So hätte ich es wahrscheinlich
damals als Schüler nicht formuliert; diese Worte entstanden aus der Rückschau
auf diese Zeit. Aber das ist es, was mich beschäftigte, was ich spürte: Ein
Zweifel am selbstverständlichen Mehr, das alle anzustreben hatten.
Aber nur wenige Jahre später
folgte die bittere Erkenntnis, dass wir in eine Sackgasse geraten waren. Nur
der Glaube an ein liebendes Ganzes war im Stande, uns umkehren zu lassen. Ich
habe nie erfahren, ob es Herrn Tilly auch gelang, mit uns zu kommen. Ich
wünsche es ihm; so viele schafften es nicht.
(Text-Ausschnitt aus: Abkehr vom
Leid. Erinnerungen des Pfarrers Lukas Burgfried. 2001-2061. Neudorf:
Wege-Verlag.)
(c) HV
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