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Prolog "Nur zwei Dinge"


Die Welt trägt ihre Narben auf ewig. Beim Großen Mord wurden sie ihr beigebracht, und das kann nichts und niemand umkehren. Ymir, zwischen den allerfernsten Polen meines Selbst dem Nichts entstiegen, kann kein Gott, kein Schicksal, wieder erwecken und die Schuld seiner Mörder tilgen. Überall sind Spuren der verwerflichsten und zugleich heiligsten Tat zu finden: Wolken ziehen in seiner Hirnschale ihre Bahnen, Vögel flattern zwischen ihnen umher. Menschen, Riesen, Zwerge bearbeiten seinen Leib, der nur noch einen kümmerlichen Rest früheren Lebens in sich trägt und dennoch alles nährt. Schiffe fahren auf Fluten seines Blutes, und jene, die sich Asen nennen, haben ihre hohe Burg auf seinen zerborstenen Knochen gebaut. Und wie die Größten unter allen Wesen schuldig werden, sich betrügen, Meineid leisten, einander foltern und hinschlachten, so tun dies die Geringsten ebenso, die dunklen Wesen der Niedertracht, hausend im Abseits, und jene Bedauernswerten, die dazwischen stehen: die Menschen, Midgardbewohner. Denn alles steuert auf das Ende der Geschichte zu, wenn der Bruder den Bruder meuchelt und die Schwester der Schwester den Schmuck hassend neidet, und endlich Hels Heerscharen die Verbliebenen überrennen.
Da ist ein Mensch, der nicht weiß, dass er göttliches Blut in sich trägt, und er verzweifelt an dem, was er für sein Leben hält. Er hat getötet, viele Male, ob Schuldige oder Unschuldige, er hat es nicht gewusst. Er hat getötet in einer Welt, die das Leben um jeden Preis heiligt, das Töten verurteilt und das Sterben in kleine Kammern steckt. Und in dieser Welt, die ihn heimlich verachtet ob seiner Taten, die ihm befohlen wurden, scheitert er und legt Hand an sich, will endlich sterben und die Sinnlosigkeit um sich her endgültig vergessen, alles vergessen. Dabei verlangt die Geschichte nur eines von ihm: der Henker zu sein für einen Mörder, ein letzter Mord im Namen gerechter Vergeltung. Aber das weiß er nicht, ahnt es noch nicht einmal.

Ein Raum wie viele: ...
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Die Fortsetzung der Geschichte findet sich hier.

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