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Eriachae, die Waldesrächerin - Teil 1

Der Gedanke des Lebens hatte den Wald der Welt einst geformt, doch nun begannen Vernichtung und Tod sich seiner zu bemächtigen, und die Bäume wichen zurück. Unter ihnen lebten Wesen, die Blätterschein, Wurzel, Ast und Rindenwuchs besonders liebten. Sie bekamen vom Wald das, was sie brauchten, doch nahmen sie nie viel; bescheiden waren sie, und der Nahrung bedurften sie nur wenig. Kleiner wurde der Wald, bis er nicht mehr die Welt umrundete, sondern nunmehr vereinzelte Landstriche bedeckte. So ging die Zeit dahin unter den Bäumen der Welt, und ihre Lieder sangen die Wesen nur noch selten, denn wie die Bäume, so wichen auch sie vor Zerstörung und Tod. Jene erschienen in Gestalt derer, die sich Menschen nannten. Und wo jene erschienen, gingen sie. In eine Welt würden sie gehen, in welcher alles um sie her licht und walden war – so erzählten sie sich.

Und also verließen sie die Welt, die mehr und mehr von den Menschen bevölkert wurde, auf einem Weg, den niemals eines Menschen Auge erblicken würde. Abschied erfüllte die Lüfte vieler Wälder, und viele, die ihre alte Heimat liebten, vergossen Tränen im nahenden Aufbruch. So auch das Mädchen Erygwen: Sie wollte den Wald, die Bäume, die sie so liebte, nicht verlassen, und je näher der Tag des Abschieds kam, umso fester wurde ihr Entschluss, allein die Jahre unter den Bäumen kommen und schwinden zu sehen. Jedoch liebte sie einen Jüngling, und dieser war entschlossen, mit all den anderen ihrer Art diese Welt zu verlassen. Und so sprachen sie in eiseskalter Luft die letzten Worte zu einander. Sie liebten sich, doch wussten sie es nicht; nie hatten sie es sich gestanden.
„So komme doch mit uns, Erygwen! Hier, einsam und nun fern der Götter, willst du bleiben, und ohne ... mich?“
Er legte all sein Drängen und seine Furcht in diese Worte, denn trotz allen Entschlusses zu gehen fürchtete er sich vor dem Neuen ohne sie. Bleich war sein Gesicht, und zitternd suchten seine Finger ihre warmen Hände, die sie aufnahmen, womöglich zum letzten Mal. Es war Winter; Zeit und Ferne zerrten an seinem Leib und schienen ihn zu entrücken von der steinernen Brücke, auf der sie standen. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Zu beiden Seiten des zugefrorenen Flusses unter ihnen standen Bäume aller Art, und der Schnee machte sie müde. Traurigkeit und Ruhe waren in ihrer Stimme, als Erygwen sprach:
„Die Götter. Nicht dort sind sie, wohin ihr aufbrecht. Hier sind ihre Hallen, deren Wände die schützenden Stämme der Bäume sind und deren Dach von Nadel und Blatt ist. Hier ist ihre Macht! Ich bleibe. So bleibe auch du, ich bitte dich.“
Ohne Hoffnung darauf hatte sie gesprochen, denn alles stand bereits fest. Er jedoch erwiderte:
„O Erygwen, erinnerst du dich nicht an den Tag, der uns so viel Trauer und Furcht brachte? Unsichtbaren Pfaden folgend, zu den Stätten der Ältesten, gingen wir und fanden Zerstörung. Gefallene Bäume; ihr Blut bedeckte die Erde, ihre Wurzeln gruben und suchten umsonst, und dort, wo zahllose Blätter ihre grün schimmernden Lieder gesungen, war Schweigen. Entsetzlich war es! Ich höre noch immer unser Klagen. Die Göttlichen schwinden, so wie wir.“

Lange sagte Erygwen nichts ob der Worte dessen, den sie liebte. Sie folgte dem starren Fluss mit ihrem Schauen, bis dieser sich nach fünfzig Schritten in die Tiefe stürzte. An wärmeren Tagen toste dort das Wasser, doch in diesen Wintertagen war es verstummt, und der Wasserfall stand fest wie ein Baum; schon lange herrschte der Frost. Das letzte Licht der untergehenden Sonne vergoldete das Eis, und die beiden standen schweigend, bis es nicht mehr war. Fahler Schein durchdrang die waldene Halle, und Erygwen fühlte, wie seine Hände ihr allmählich und zögernd entglitten. Sie sah die ihres Volkes, wie sie auf einer Lichtung gingen, umrundet vom alten Wald. Ein tiefer Schmerz fuhr in ihr Herz, als sie gewahrte, dass ihre Schritte, die nicht im Schnee versanken, unhörbar und bereits im Vergehen waren. Das schwache, graubraune Licht drang durch die Schwindenden wie ein durchschauender Blick. Doch sie gab das Licht zurück, blauweiß und strahlend, denn sie würde bleiben. Nur sie würde sich der Schwindenden erinnern in dieser Welt, alles sonst würde Vergessen sein. Langsam kam der Mond herauf. Noch hielten sie sich auf der steinernen Brücke, sahen sich in die Augen, die voller Liebe füreinander waren. Doch kein Wort darüber war zwischen ihnen. Ihrer beider Tränen verschleierten die Bilder voneinander, welche schmerzliche Erinnerung sein und ohnmächtige Sehnsucht werden würden. Nebel umschloss beide ein letztes Mal. Sein langer Mantel flatterte im kalten Wind, doch ihr Gewand hing still herab, wusste der Wind doch, dass sie blieb.
„Wer weiß“, sprach sie, „ob die Götter noch sind, oder je waren? Die Welt ist im Wandel, und der Wald weiß das und trauert. Ich will in ihm sein und ihn erfreuen.“
Ob dieser Worte nahm er seine Hände aus ihren, und träge sank der Nebel als Zeichen des Abschieds zwischen die beiden. Fest, verwurzelt mit dem Waldesboden, stand sie, als er sich den anderen anschloss. Sterne aus Schnee und Eis fielen in ihr Haar, und sie wurden bewahrt vom fahlen, kalten Mond. Sie würde nun die Letzte sein, und sie fragte sich, ob sie je wieder singen würde wie Lerche und Nachtigall oder tanzen wie Regen und Blatt, so wie sie es stets gehalten hatte, wenn sie sich ihres Waldes freute. Sie erhob ihren Arm, der von sanftem Stoff umgeben war, öffnete ihre zarte Hand zum letzten Gruße, doch er schaute sich nicht mehr um; und leise flüsternd gestand sie ihm ihre Liebe, doch er hörte sie nicht mehr. Seine Schritte waren wurzellos, sein Blick suchend nach etwas, das er nicht kannte. Vielen, die mit ihm waren, erging es so.

Erygwen stand noch lange auf der steinernen Brücke, und ihr Schauen hing lange an ihm. Einem göttlichen Segen gleich fiel feiner, glitzernder Schnee von den Tannen auf die Schwindenden hernieder. Bald waren ihre Lichter  vergangen, wie Zwielicht vom Dunkel der Nacht verdrängt. In der Mitte der Nacht ahnte sie von fern her ihre Stimmen, die voller Ende ein trauriges Lied sangen:

O Flut der mächt´gen Erdenstrahlen,
missen werden wir deine Lichter,
geschaffen von Baum, von Erd´ und Schnee.
Wandelnd waren wir in grüner Welt,
priesen deinen Glanz; nun kommt die Zeit,
dich zu verlassen, da Schwärze droht.
Unser Gang beschert uns ew´ges Glück,
doch stets schmerzt der Trauer tiefer Stich
in den Herzen, da wir dich verließen.
 

Hernach zog Stille zwischen den Stämmen und Ästen umher. „Ihr werdet nichts finden“, sagte sie, und dies waren die letzten Worte, die Erygwen an die richtete, die sie verlassen hatten. Ihre Tränen wurden im Weiß diamantengleich.

- Fortsetzung folgt -

(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)

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