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Eriachae, die Waldesrächerin - Teil 2

Nach der Abschiedsnacht kamen mit dem neuen Morgen die Menschen. Schwärze brachten sie mit sich, und sie brach Licht und Baum im alten Wald. Das Waldmädchen verbarg sich im Gewand des Waldes, und so entkam sie stets der Unheil bringenden Schwärze. Niemals wieder fiel das Wasser des Flusses golden den Abhang hinab, wie es am Abend ihres großen Verlustes geschehen war, doch es floss und fiel, wie die Jahre hinab ins Dunkel der Vergangenheit. Mit dem Schwinden ihres Volkes war diese Welt gefallen in tiefe Trübnis, und in dieser grauen und einsamen Zeit stahlen sich Sehnsucht, Furcht und Zorn in Erygwens Herz, währenddessen die Menschen mit Gier in den stumpfen Augen und Wut in den zerstörerischen Händen das Antlitz des Waldes entstellten. Immer flüchtete sie vor ihnen, zog mit ihren wenigen Habseligkeiten im geliebten Wald umher, in der vergeblichen Hoffnung, einst gänzlich sicher vor ihnen zu sein. Oft träumte sie von ihrem Volk und der neuen Heimat. Und von ihm: In nebligen Träumen kam er zurück zu ihr und sie füllte aus Freude den Schnee mit Diamanten an. Ob er nun glücklich war? Hatte er gefunden, was er gesucht? Mit den Jahren verblasste sein Bild in ihren Träumen, bis sie sich fragte, ob sie ihn je geliebt hatte. Leere trat an die Stelle der Liebe zu dem, der sie verlassen hatte, der aber in der Ferne stets sehnsuchtsvoll an sie dachte. In Nächten jedoch, die ohne Mond waren, kamen andere Träume:

Sie ging im Wald umher, und eine tiefe, lauernde Furcht erfüllte sie. Grüne Blätter bedeckten verbrannte Erde. Hinter sich gewahrte sie den Lärm der Menschen. Sie lief schneller, doch mit einem Aufschrei blieb sie plötzlich stehen, denn sie sah ein Schlachtfeld. Eichen, Ulmen, Kiefern, Eschen und all die anderen Bäume, die sie hier erwartet hatte, lagen tot auf der Erde. Inmitten dieser grausigen Lichtung sah sie jemanden, eingehüllt in schwarze Gewänder. Sie wandte sich zur Flucht, doch eine mächtige Stimme rief:
„Stehe und schweige!“
Und sie stand, war gelähmt; unsichtbare Hände drehten sie herum. Ein Wimpernschlag verging, und der schwarze Mann stand vor ihr. Er hielt einen langen Stab in einer Hand, und eine Kapuze tauchte sein Gesicht in Schatten, aus dem nur seine eigentümlichen Augen hervorstachen. Gebannt starrte sie in diese Augen, die ohne Glanz, ohne etwas darin waren. Solches, Augen voller Leere, hatte sie noch niemals gesehen. Bei denen ihres Volkes kündeten die Augen von einer Seele, und auch bei den Menschen hatte sie dies schon hin und wieder gesehen, doch in diesen war nichts. Dann veränderten sie sich. Zuerst sah Erygwen sich selbst in den Augen, dann zeigten sie ihr ein Bild ihres heimatlichen alten Waldes, dessen Bäume allesamt tot und gefallen waren. Dann verschwand das Bild und die Leere kam wieder. Wieder donnerte die Stimme:
„Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“
Dies wiederholte sich, während die Wege des sterbenden Waldes unter ihren Füßen entlang schnellten. „Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.“ Sie fand sich bei den Stätten der Ältesten wieder. Alt war hier die Zerstörung von Baum und Blatt. Noch älter waren die Stätten, welche kündeten von Weisheit und unter junger Erde verborgen lagen. Urplötzlich kam ein Sturm auf und befreite die Gemäuer. Sie kam näher und gewahrte einen Stein inmitten von Säulen. Kugelrund war er, und er schimmerte licht und dunkel, war von Stein und von anderer Art. Sie berührte ihn und wurde mit Kraft und Willen erfüllt.


Diese Träume wiederholten sich in den Dunkelheiten ohne Mond. Lange wusste sie nicht, was sie bedeuteten, doch entschloss sie sich eines Tages, zu den alten Stätten zu gehen. Es war ein beschwerlicher und schmerzvoller Weg, entlang verstümmelter Baumstämme, durch karges Land, das einst, vor dem langen Winter, walden gewesen war.
„Sterbender Wald, einmal warst du voller Ruhe und Kraft. Doch nun fallen die Blätter und Nadeln im Frühling, und die Menschen lärmen und töten.“
So sprach Erygwen, und seufzend ging sie weiter, doch wenig Hoffnung erfüllte sie, dass ihre Wanderung dem Wald und ihr Linderung, Rat oder Hilfe bringen würde.
Da traf sie auf drei Menschen: eine alte Frau, einen Mann und ein Kind. Sie waren mit Waffen gegen den Wald gerüstet; selbst das Kind trug eine kleine Axt. Voller Furcht war sie, als sie mit entschlossenen Schritten und wehendem Gewande vor diese hin trat, denn sie hatte gesehen, was Menschen taten, wenn sie etwas nicht kannten oder verstanden. Doch dies ließ sich das Waldmädchen nicht anmerken, als es die Menschen mit erhabener Stimme fragte:
„Warum tut ihr das?“
Dabei wies sie in Richtung der gefallenen Bäume. Und das Kind antwortete:
„Weil es mir Spaß bereitet.“ – „Weil es mich reich macht“, sprach der Mann, und die alte Frau entgegnete: „Weil es nicht anders geht.“
Die Menschen zogen weiter, unbekümmert, und Erygwen blieb ratlos stehen, zornerfüllt. In ihrer Wut erkannte sie, dass die Göttlichen nicht existierten konnten, denn warum ließen sie das Tun der Menschen zu? Nur tote Götter, oder solche, die für diese Welt keine Augen hätten, handelten so. Sie verstand nun ihre düsteren Träume mit dem schwarzen Mann. Dessen spiegelnden Augen hatten ihr ihre Lüge offenbart: Irgendwann würde sie nicht mehr flüchten können, irgendwann wäre ihr geliebter Wald verschwunden, niemals würden die Menschen aufhören. Ob dieser Erkenntnis weinte sie bitterlich und sank nieder auf die kahle Erde. Dort lag sie in Trauer und Mutlosigkeit, während die Sonne am Himmel entlang zog und alle Winkel des Leids beleuchtete.
Irgendwann richtete sie sich wieder auf. Ihr Blick war klar und entschlossen, kündete von neuem Erkennen. Sie war nicht mehr Erygwen, das Waldmädchen. Die, die sie nun war, rief in die kahle Ebene hinein:
„So hört, ihr Menschen! Eriachae, die Waldesrächerin, spricht zu euch! Sterben werdet ihr, wenn ihr mit dem weitermacht, was ihr immer tatet! Beendet es!“
Doch die Menschen hörten nicht, und so wusste sie, dass sie alleine eine Schlacht schlagen würde.
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
Sie wusste nun, was zu tun war. Schnellen Schrittes ging sie ihrem Ziel entgegen.

Eine kleine Furcht hatte sie vor den Stätten der Ältesten, doch eine große Furcht vor dem Kommenden trieb sie weiter an. Sie konnte sich der unsichtbaren Pfade noch gut erinnern. Im Zwielicht eines neuen Morgens erreichte Eriachae den Ort, welchen sie mit dem, den sie einst geliebt, zuletzt gesehen hatte. Es war ein Ort neuen, zaghaften Lebens, durchsetzt von altem Leid und noch älterer Weisheit und Macht. Abgehauene Baumstämme lagen ausgehöhlt, von Getier zerfressen. Moos bedeckte ihre toten Wunden. Efeu rankte auf dem Boden umher, suchend nach Höhe. Einige junge Bäume standen einsam, und Gräser und Blumen hatten sich langsam hier eingefunden. Diese wussten nichts mehr von jenem alten Kampf, die hier einst stattgefunden; hier war das erste Schlachtfeld des Krieges zwischen Mensch und Grün. Die Bilder ihrer Träume standen klar in ihrem Geist, und sofort machte sie sich daran, an der Stelle, wo einmal Säulen gewesen waren, zu graben. Sie stieß mit ihren Händen auf etwas, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Hoffnung glühte in ihr auf; wäre es doch der kugelrunde Stein, den sie im Traum gesehen hatte! Sie fühlte, dass er ihre Waffe sein würde. Doch wusste sie nicht, auf welche Weise. In einer Gier, die fast menschlich war, gruben ihre Hände weiter, bis sie jenen Stein hielten. Er lag auf einer marmornen Platte, die von ihr freigelegt wurde, und in einer Schrift, die nur noch Eriachae lesen konnte, standen diese Worte darauf:

O Seinsstein, der du geschaffen bist von den Großen Gedanken Leben, Tod, Schaffen, Vernichten im Anfang allen Seins des Vierten Zeitalters, mögest du in tugendhafte Hände gehen, denn du ermächtigst sie, die Welten zu verwandeln.

Freude und Furcht gleichermaßen durchdrangen das Mädchen. Vieles hatten ihre Ahnen in den alten Liedern und Geschichten berichtet vom Seinsstein; nun hielt sie ihn in ihren eigenen Händen! Groß war seine Macht, besaß er doch die Urkräfte von Licht, Dunkel, von Stein und dem Nichts. In ihrer Hast und ihrem Hass auf die Vernichter des Waldes verband sie mit Hilfe des mächtigen Steins das Leben der Bäume mit dem Leben der frevlerischen Menschen, und ihren Tod ebenso, auf Gedeih und Verderb. Eriachae erinnerte sich dessen, was sie in ihren Träumen gesehen hatte:
Der Schnitter der Bäume wird der Schnitter der Menschen sein.
So starben auf der Welt, die einst ein einziger großer Wald gewesen war, die Menschen mit den Bäumen, und viele Geschichten und Berichte zeugen davon.

Der Wald, den sie so liebte, den sie, wie sie einst gelobt hatte, erfreuen wollte, war immer kleiner geworden, und also zog Eriachae ihn mit der Kraft des Steins mitsamt seinen Kreaturen aus der Menschenwelt: Er schwebte zwischen jener und der neuen, waldenen Welt ihres Volkes. Hernach verlor sich der Seinsstein im Nichts, denn dies ist seine vierte Wesensart. Ewiger Winter war nun in Eriachaes Wald, und Schnee und Eis tauchten ihn in Schlaf. Versunken in Erinnerung und Schmerz folgte sie dem grauen Nebel. Der Mensch ward sein eigener Schnitter und verfiel dem Chaos. Doch beendete er nicht sein frevlerisches Tun, denn er verstand nicht. So bereute sie zutiefst ihre Tat. Allein, ändern ließ es sich nicht mehr.
Die Jahre schwanden, und aus der Ferne – von Welt zu Welt – sah Eriachae den schwarzen Mann aus ihren Träumen vor Jahrhunderten, und die Menschenwelt ertrank an der Menschenflut.
Und irgendwann fiel die Waldesrächerin in ihren letzten Traum:

Sie beschritt den letzten Pfad und folgte endlich ihrem Volk. Keine einsame Zeit schien vergangen zu sein, und auf der steinernen Brücke stand er. Der Stein sah weich aus, schneebedeckt. Vieles hätten sie sich erzählen können von der vergangenen langen Zeit, doch die Worte kamen zögernd. Seine Hände wieder in ihren, und endlich, endlich sein Geständnis der Liebe zwischen ihnen. Doch ihr Herz war der Liebe nicht mehr fähig, nur der Reue. „Ich war Mensch“, sprach sie. So verließ Eriachae die Brücke. Dennoch blieb sie bei ihrem Volk und hoffte auf einen neuen Frühling.

(c) HV
(04/2003, überarb. 01/2015)

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